Ein Lernmorgen in St. Gallen

Die St. Galler Studierenden gelten als ehrgeizig, entschlossen, diszipliniert.

Lisa schmeisst ihre Louis Vuitton Tasche auf den Tisch. Mit Lisas dünner, eher zerbrechlichen Gestalt ist man geneigt zu meinen, die Tasche sei leicht – aber nein, oh nein. Man bemerkt die Erleichterung in Lisas Gesicht, die Wucht, mit der die Tasche fällt, der Knall, der entsteht, als sie landet. Und dann, man kann es kaum fassen, was Lisa da nun alles rauszieht, Stück für Stück, endlos; sie eine Zauberin, und ich ein begeistertes Kind. Der Wahnsinn. Erster Ordner, ein Skript, ein Buch, aber was für ein riesiges Buch!, erste Schachtel Karteikarten, zweite Schachtel Karteikarten, iPad, iPhone, Macbook, zweiter Ordner, dritt- ah nein, da hat Lisa doch genug und lässt ihn wieder in die Tasche versinken. Das muss also reichen für den Anfang.

Diese Universität sei kein Kinderspiel, heisst es von allen Seiten. Wäre natürlich auch nicht zu erwarten, man muss doch nur schauen, wie viele CEOs, CFOs, COOs, CTOs, CLOs, CROs sich hier schon durchgekämpft haben. Doch die richtigen HSGler, die meistern diese Unmengen an Stoff mit Bravour. Siehe Lisa: Um 10.30 Uhr sitzt sie bereits in der Halle des Bibliotheksgebäudes mit einem Arsenal an Lernmaterial. Die nächsten fünf Stunden werde sie hier konzentriert lernen, mindestens, macht sie ihrer Freundin am Telefon klar. Nein, sie komme heute weder ins Bodytoning noch ins Spinning noch ins Yoga. Heute ist Lerntag. Stoisch legt sie ihr iPhone auf die Seite, nicht zu nah, aber auch nicht zu weit weg, nicht im Vordergrund, und gleichwohl noch im Blickfeld. Sie lehnt sich noch ein letztes Mal zurück, streckt ihre Arme in einer eleganten, dehnartigen Bewegung aus, rotiert den Kopf langsam nach links, nach rechts, und macht sich an die Sache. Sie zieht einen Ordner vorsichtig von ihrer beträchtlichen Sammlung hervor, schlägt ihn auf, atmet tief ein, und liest. Und wie sie liest! Mit ihrem Leuchtstift streicht sie an, was das Zeug hält, immer mehr, Zeile für Zeile, sodass es einem vorkommt, als habe sie vielleicht eine spezielle Strategie, als wäre das Nicht-Angestrichene das, was zählt, und nicht umgekehrt.

BZZZZZ. Lisas iPhone vibriert neben ihr, und mit dem iPhone der ganze Tisch. Der Leuchtstift bleibt auf der Stelle stehen, Lisas Kopf weiterhin auf der Seite im Ordner fixiert. Sie wirkt verunsichert, gespalten zwischen dem iPhone und dem Ordner. BZZZZZ. BZZZZZ. Es vibriert nochmal. BZZZZZ. Ohje, das muss ja wichtig sein. Ein Börsen-Crash vielleicht? Auch die Lernenden an den anderen Tischen haben ihren Blick nun auf Lisa gerichtet, sichtlich gespannt, wie sie reagiert. BZZZZZ. Das wars, Lisa lässt den Leuchtstift fallen, greift zum iPhone, streicht ihren Daumen über den Bildschirm. Sie fängt an, mit ihren Daumen auf dem Bildschirm herumzudrücken, so unglaublich schnell. Man schaut begeistert zu, sie ist in ihrem Element, das ist Kunst.

Ohne Vorwarnung steht sie nun abrupt auf, greift ihre Jacke, den Schal, lässt alles andere da, und spurtet zum Ausgang. Man vermutet, es sei etwas Schlimmes, etwas Tragisches vorgefallen, man will ihr helfen, aber alles halb so wild, wie sich herausstellt: Rauchpause mit der Freundin. Erste Zigarette. Ob sie gestern im Ele gewesen sei. Sicher, und dann noch im Trischli, und dann noch im Backstage, lustig sei es gewesen, sie wisse zwar nicht mehr alles, und sie sei heute morgen so kaputt gewesen, aber hey, YOLO. Zweite Zigarette. Ob sie schon ein Praktikum habe für den Sommer. Ja klar, bei der UBS, ihr Dad kenne da jemanden, voll die gute Bezahlung, und auch sonst, in Zürich arbeiten sei einfach geil. Dritte Zigarette. Ob sie schon gelernt habe auf die Prüfungen. Ja, gerade eben, aber sie müsse noch mehr machen heute, es sei so viel zum Lernen, und in der Lernpause sei sie ja in der Karibik.

Zu zweit kehren sie nun wieder ins Gebäude, holen sich einen Kaffee, und begeben sich wieder an den Tisch, wo Lisas Ordner noch offenliegt und wartet. Lisa schliesst den Ordner und schmeisst ihn wieder in die endlose Tasche. Das wars wohl schon mit dem ersten Fach, so schnell geht das, so effizient sind diese HSGler, das macht einen doch zuversichtlich für das Wirtschaftswachstum unseres Landes. Lisa und ihre Freundin trinken ihren Kaffee langsam, reden über dies und das, über den und über die, man kommt gar nicht mehr mit. Es scheint allerdings nichts mit den Ordnern oder den Büchern oder den Karten zu tun zu haben, denn diese liegen allesamt auf einem Haufen auf der Seite.

Nach einer Weile packt Lisa alles wieder in die endlose Tasche, Stück für Stück werden iPad, Macbook, Ordner, Bücher, Karten wieder von der Dunkelheit verschlungen. Man versucht zu verstehen, was passiert ist, und allmählich wird es klar: Sie gehen in die Mensa, um den grossen Ansturm zu umgehen, den es nachher mit Sicherheit gibt.  Aber Lisa macht vorher noch einen Telefonanruf, es scheint wieder die zu sein, mit der sie am Morgen bereits telefoniert hat: Sie komme zwar nicht ins Yoga, aber doch ins Spinning und ins Bodytoning. Immerhin habe sie am Morgen aussergewöhnlich viel für die Uni gemacht.


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