«Das BWL-Studium sollte wie eine Berufslehre organisiert werden»

Johannes Rüegg-Stürm, Professor und Vater der aktuellen Version des berühmten St. Galler-Management-Modells, erzählt von seiner Musik, dem Wert von Vertrauen und wieso das SGMM so kompliziert ist.

Spielen Sie ein Musikinstrument und haben Sie jemals von einer Karriere als Musiker geträumt?

Ja, ich spiele seit 47 Jahren Querflöte. Ich wollte es aber nicht beruflich machen, weil ich zu wenig Talent dazu habe. Mir fehlte auch die Motivation dazu, acht Stunden am Tag zu üben. Ich konnte mir damals als Jugendlicher aber viele Studiengänge vorstellen; Theologie oder Maschinenbau hätten mir auch gut gefallen. Am Ende habe ich mich für die Wirtschaftswissenschaften entschieden, weil sie sehr interdisziplinär sind. Die HSG gefiel mir sehr gut, weil verschiedene Aspekte wie Geschichte und Soziologie einbezogen wurden. So viele Wahlmöglichkeiten wie ihr heute habt, hatten wir damals aber noch nicht.

Sind sie damals gern aufgetreten?

Nein, überhaupt nicht. Als Musiker muss man eine Kunstfertigkeit entwickeln, um nicht abgelenkt zu werden. Man muss einen «Flow» entwickeln, bei welchem es dann wie von selbst geht. Das gilt nicht nur für das Musizieren, auch wenn ich unterrichte bin ich im «Flow». So kann ich mich total auf die Menschen und die Themen konzentrieren. Das habe ich mir über die Jahre erarbeitet. In meiner Tätigkeit als Professor arbeite ich gerne mit Menschen zusammen und begleite sie auf ihrem Weg. Die meisten schätzen das, besonders, wenn wir kulturelle Aktivitäten unternehmen. Mich freut es zu sehen, wie sich die Menschen begeistern, zum Beispiel als wir vier Tage in einem Benediktinerkloster waren und uns mit der dortigen Kultur auseinandersetzten. Ich halte nicht gerne Vorträge, solche gemeinsamen Erfahrungen schätze ich viel mehr.

Hat das kapitalistische System die zwischenmenschlichen Beziehungen negativ beeinflusst?

Ich glaube nicht, dass man das so plakativ sagen kann. Das Verhalten hängt von sehr vielen Faktoren ab. Es ist sicher so, dass man Leistungs- und Bedürfnisgerechtigkeit in ein konstruktives Verhältnis setzen muss. Wie sich diese entwickeln, ist eine Herausforderung für jede Gesellschaft. In einer Familie gibt es diesen Gegensatz auch. Man muss die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen. Gleichzeitig darf man aber die Leistungsgerechtigkeit nicht aus dem Auge lassen, denn es kann nicht sein, dass der ganze Haushalt von einer Person geführt wird, oder dass ein Kind mithilft und das andere nicht. Es geht also um einen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen.

Wie steht es um die Schweiz?

Ich glaube, die Schweiz hat hier eine spezielle Rolle, da sie auf einem Gebiet gebaut ist, dass völlig unwirtlich ist. Wir, die Eidgenossenschaft, haben uns selbst geholfen und uns entwickelt und ich glaube, dies hatte einen starken Einfluss auf unsere heutigen Umgangsformen. Deshalb haben wir so viele Ausgleichsmechanismen wie den Finanzausgleich zwischen Kantonen. Wir haben eine dynamische Balance zwischen Leistungs- und Bedürfnisgerechtigkeit gefunden.

Wie können Kulturen im Kontext der Globalisierung zusammenkommen?

Wir müssen unser Leben stärker als Experiment verstehen. Das heisst, wir müssen eine Haltung entwickeln, in der wir bereit sind, etwas gemeinsam zu realisieren. Die verschiedenen Kulturen bringen dabei ihre unterschiedlichen Erwartungen mit und herausfordernd ist dann, diese zu berücksichtigen. Anstatt zu entscheiden, welche Kultur besser ist, müssen wir uns fragen, woher jemand kommt und wie sich seine Sichtweise oder seine Erwartungen entwickelt haben. Kulturkonflikte, wie wir sie im Moment zwischen der westlichen und der arabischen Welt beobachten können, sind ein Zeichen des Unvermögens mit der Ungewissheit umzugehen. Der Preis der offenen Gesellschaft ist, dass sie viel mehr Ungewissheit mit sich bringt.

Wie können wir das Vertrauensproblem mit den Kulturen lösen?

Blindes Vertrauen ist gefährlich. Wir brauchen jedoch Vertrauen, um zusammen funktionieren zu können und dies beinhaltet die Möglichkeit, enttäuscht zu werden. Vertrauen ist etwas Dynamisches, das wächst oder abnimmt. In einer Gesellschaft muss man damit leben können, dass es diese Unsicherheit gibt. Im Leben wird man immer wieder verletzt und man verletzt auch selbst. Wir müssen uns aber auch wieder versöhnen und über diese Verletzungen hinwegkommen können.

Was halten Sie von der Theorie-Lastigkeit des BWL-Studiums an der HSG?

Es ist zu theoretisch. Wenn ich wählen könnte, würde ich das BWL-Studium als Lehre organisieren, bei welcher man zwei Tage pro Woche in einer Firma arbeitet und die anderen drei Tage hier die Theorie lernt. Die Kontextualisierung, also die Anwendung in der Praxis, ist extrem wichtig. Ich biete ihnen nicht das Wissen, wie man geschäftlich erfolgreich ist, sondern wie man die Probleme überhaupt beschreiben kann. Unser nächstes Ziel ist es, das SGMM anhand von ein oder zwei Firmen zu verfilmen, damit die Studenten sehen, wie es dann effektiv angewendet wird. Im Moment wird ihnen das Modell einfach um die Ohren gehauen. Das Problem ist, dass wir ihnen den Kontext dazu nicht geben.

Sollte die SGMM-Vorlesung also praxisorientierter werden?

Das Problem ist primär die Zeit, die wir zur Verfügung haben. In der Vorlesung müssen wir sehr viele Themen abdecken. Die wichtigsten Aufgaben des Managements sind meiner Meinung nach die Entscheidungsprozesse sowie deren Umsetzungen. Deshalb ist es so schwierig Beispiele zu machen, weil die Praxisliteratur dazu fehlt. Es ist eine didaktische Herausforderung, den Kontext zum SGMM zu vermitteln. Da stosse ich an Grenzen. Vielleicht werden die Vorlesungen im aktuellen Setting auch bald abgeschafft.

Welche theoretischen Fehler sehen Sie in der Unternehmensführung?

Mich stört es, wenn die Komplexität einer Unternehmung abenteuerlich einfach gehandhabt wird. Deshalb bin ich auch kein Fan von Donald Trump. Er vereinfacht die Realität viel zu stark. Wir müssen ein Mass finden, wie weit wir abstrahieren können, denn sonst kann es gefährlich werden. Ein Ingenieur kann bei einem Flugzeug auch nicht völlig vereinfachen, sondern er muss sich um die Details kümmern. Dasselbe gilt auch für organisatorische Fragen in Unternehmen und der Gesellschaft allgemein.

Wie können wir mit der Sprache des SGMM umgehen?

Die Sprache muss so sein, wie sie ist, weil die Komplexität der Realität nicht mit einer einfacheren Sprache ausgedrückt werden kann. Wir arbeiten jedoch an einer Kurzfassung, die etwas vereinfacht formuliert sein wird. Man könnte jedoch argumentieren, dass das Modell von der Komplexität her nicht ins Assessment passt, sondern eher in die Bachelorstufe. Verglichen mit der ETH ist das SGMM jedoch nicht besonders anspruchsvoll.


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