Die Menschen hinter der Statistik

Das Projekt “Gerüch(t)eküche” des Jugendrotkreuz Kanton St. Gallen stellt Migranten in einem Kochbuch mittels Geschichten und Gerichten aus ihrer Heimat vor, um Vorurteilen entgegen zu wirken. prisma war bei einem dieser Kochabende dabei und durfte spannende Einblicke in die Geschichte einer Migrantin erhalten.

Mehr als 10 HSGler engagieren sich bereits beim Jugendrotkreuz (JRK) St. Gallen, das sich besonders für langfristige soziale Integrations-Projekte in der Stadt einsetzt. Das neueste Projekt ist das Kochbuch Gerüch(t)eküche. Dafür kochen Migranten aus 15 unterschiedlichen Ländern typische Gerichte aus ihrer Heimat und erzählen dazu ihre persönliche Einwanderungsgeschichte. Die Verantwortliche Andrea Pitsch Schmid erklärt, das Ziel sei zunächst, ein Verständnis zwischen den Kulturen zu fördern. Das Projekt soll zeigen, dass sich hinter den Einwanderungszahlen Menschen mit ihren eigenen Geschichten verbergen.

JRK_Kochbuch_Cover verkleinert[1]

Die jeweiligen Köche haben alle sehr unterschiedliche Migrationshintergründe: Menschen, die seit einigen Wochen erst in der Schweiz sind oder schon seit 20 Jahren hier leben, noch im Kampf um Asyl oder längst integriert und mit Schweizer Staatsangehörigkeit, aus den verschiedensten Ländern wie Portugal, Afghanistan, Belgien, Somalia, etc. Nicht alle sind Flüchtlinge und unter Not eingewandert, einige sind auch freiwillig aus ganz anderen Gründen gekommen. So kommt eine Mischung aus Geschichten zu Stande, die verschieden tragisch aber auch fröhlich und hoffnungsvoll sind.

Im Lastwagen nach Europa

Andrea erzählt von einigen Begegnungen, die sie besonders berührt haben. Momentan ist ein besonders großes Problem, dass viele Minderjährige unbegleitet in die Schweiz kommen. Der erst 17-jährige Zindan aus Syrien kam letztes Jahr nach St. Gallen und hat auch für das JRK gekocht. Zuerst wollte er nur in die Türkei, um die Schule zu beenden. Da wurde er jedoch wegen seiner Herkunft verstoßen. Seine Familie konnte ihm einen Transport nach Europa organisieren: Über zwei Wochen lang saß Zindan mit anderen in einem dunklen Lastwagen und wusste nicht genau, wohin sie gebracht wurden. Schließlich landete er in Zürich, wo ihn ein Bekannter der Familie in ein Verfahrens- und Empfangszentrum bringen konnte. Im Buch will Zindan lieber nicht zu erkennen sein, er hat Angst vor Repressalien.

Ayan aus Somalia hat eine Art Omelett für das Kochbuch vorgeführt. Sie wollte bei ihrem Interview unbedingt erwähnt haben, dass sie und ihre Familie mittlerweile einen Schweizer Pass haben. Es bedeutet ihr sehr viel, die Staatsangehörigkeit zu haben und offiziell aufgenommen zu sein. Trotzdem ist sie noch sehr stolz auf ihre Herkunft und würde gerne einmal zurück nach Somalia, sobald es die Situation in dem Land wieder erlaubt.

Authentische Gerichte zum Nachmachen

Beide sind keine professionellen Köche, manche der anderen Migranten haben aber schon Erfahrungen zum Beispiel in großen Asylzentren gemacht. Für das Buch sind ihre Kochkünste aber eher zweitrangig. Obwohl die Erklärungen möglichst genau sein müssen und alles so aufgeschrieben wird, dass es sich tatsächlich selbst kochen lässt, ist der Anspruch nicht der einer Gourmet Küche. Stattdessen sollen möglichst vielfältige und authentische Gerichte aus den verschieden Kulturen vorgestellt werden. Zu jedem Gericht gibt es deshalb auch eine Erklärung zu besonderen Bräuchen, Anlässen, an denen es gern gegessen wird, und was dazu serviert werden sollte. Dabei kommen auch ganz verschiedene Kochpraktiken zum Vorschein: Einmal wurde sogar ein ganzes Huhn wie selbstverständlich per Hand auseinander genommen, das Bild davon wird den Lesern im Buch aber lieber vorenthalten.

Neustart in der Schweiz

Besonders interessant ist die zu jedem Gericht IMG_2525gehörende Vorstellung des jeweiligen Kochs. Beim Kochen gibt es ein Interview mit den Migranten zu ihrer Geschichte: Ihr Weg in die Schweiz, ihre bisherigen Erfahrungen hier und ihre Vorstellungen für die Zukunft. Bei unserem Besuch war Eliana an der Reihe, ein Gericht aus Brasilien vorzustellen. Sie kommt aus Sao Paulo, ist mit einem Schweizer verheiratet und lebt mit ihren beiden Töchtern seit einigen Jahren im Kanton St. Gallen.

Eliana hat ihren Mann in Brasilien kennen gelernt. Danach war sie öfters zu Besuch in der Schweiz und hat sich schließlich dazu entschieden, nach der Hochzeit zu ihm auszuwandern. Ihr erster Eindruck von der Schweiz bringt alle zum Lachen: “alles sauber und organisiert” und “fast alles funktioniert so wie es sein sollte”. Ihr gefällt die Sicherheit in der Schweiz. In Brasilien dagegen sei die Kriminalität viel höher. Was hier selbstverständlich scheint, wäre dort nicht denkbar: Die Kinder ihrer Schwester können nicht wie ihre hier alleine zur Schule gehen, sie müssen jeden Tag von einem privaten Transport gefahren werden.

Priorität: Deutsch lernen

Trotz allem wäre Eliana gerne in Brasilien geblieben und ist nur für ihren Mann ausgewandert. Sie vermisst den Rest ihrer Familie, der noch in Brasilien lebt, und deshalb fliegt sie fast jedes Jahr zu Besuch in die Heimat. Zum Glück kann sie aber über soziale Netzwerke ständig in Kontakt mit ihnen bleiben. In der Schweiz wollte sie sich von Brasilien zunächst erst einmal distanzieren, um sich gut integrieren zu können.

Als Eliana angekommen ist, wollte sie  zuerst  Deutsch lernen und hat nur kleinere Jobs übernommen. In den letzten Jahren hat sie hauptsächlich als Tagesmutter gearbeitet. Nach ihrem BWL Studium hatte sie in Brasilien einen guten Job, ihr Abschluss wird hier aber nur teilweise anerkannt. Um wieder in diesem Bereich arbeiten zu können, müsste sie noch einmal studieren, und das schließt sie aus. Stattdessen bleibt sie vorerst lieber zu Hause, um ihre beiden Töchter in der Schule zu unterstützen. Mittlerweile ist Eliana in einem brasilianischen Verein tätig und hilft bei sozialen Projekten in ihrer Umgebung. Sie selber sagt, sie wurde offen und freundlich aufgenommen und fühlt sich jetzt sehr wohl in der Schweiz.

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Das Endergebnis: Moqueca de Peixe, ein brasilianisches Fischgericht
Das Gericht, das Eliana gekocht hat, ist ein brasilianisches Fischgericht, das mit Reis (nach Elianas Art zubereitet) serviert wird. Für sie hat es eine ganz spezielle Bedeutung: Sie selbst hat es zum ersten Mal gegessen, als sie ihren Mann kennenlernte. Nachkochen kann man es sehr gut, nur einige Zutaten sind in der Schweiz schwierig zu bekommen, da müsste man eben improvisieren. Als Getränk dazu bevorzugen Brasilianer Guaraná, eine Art brasilianisches Rivella, oder eben Bier und Softdrinks so wie hier auch.

Mitwirken kann jeder

Elianas komplette Geschichte und Rezept werden im Kochbuch Gerüch(t)eküche ab 26. November, rechtzeitig zu Weihnachten, veröffentlicht. Verkauft wird das Kochbuch über das Rote Kreuz Kanton St. Gallen, der Erlös dient zur Kostendeckung und fliesst in die anderen Projekte des Jugendrotkreuz  Kanton St. Gallen. Dazu gehört Nachhilfe an Integrationsklassen der Stadt St.Gallen, Besuche im Altersheim und ein weiteres Projekt in einem Asylzentrum. Besonders den eingewanderten Jugendlichen wird hierdurch der Alltag etwas erleichtert, und das kostenlos. Die Freiwilligen vom JRK übernehmen bei der Organisation und Durchführung dieser Projekte alle Aufgaben selbst und freuen sich über jegliche weitere Hilfe  (www.srk-sg.ch/jugendrotkreuz).


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