«Ich hatte bis zum letzten Tag Lampenfieber»

Ordentlicher Professor, nebenamtlicher Bundesrichter und Vorstandsmitglied der Rasa-Initiative. Ein Rückblick mit Thomas Geiser, eine der vielfältigsten Persönlichkeiten der HSG, auf seine Zeit an unserer Alma Mater.

Sie sind seit 1995 ordentlicher Professor an der HSG. Was hat Ihnen am meisten Freude bereitet?

Sicherlich der Umgang mit den Studierenden. Es ist ein Privileg in meinem Beruf, dass man ständig von jungen Leuten umgeben ist und zusehen kann, wie diese von Jugendlichen zu jungen Erwachsenen werden. Besonders hat es mich gefreut zu sehen, wie sie im Studium «angebissen» haben. Das ist etwas Wunderbares.

Wie haben Sie versucht, das Interesse der Studierenden zu wecken?

Ich glaube, das ist unsere Grundaufgabe. Alles was man vorträgt, kann man zumeist auch nachlesen. Was man aber weitergeben soll, sind zwei Dinge: Die Methodik, anhand der man zeigt, wie man an neue Fragestellungen herangehen soll, und das «feu sacré», die Freude an der Sache. Das ist auch immer sehr anstrengend im Unterricht. In der Aula oder im Audimax vor so vielen Personen zu stehen und seine eigene Begeisterung weiterzugeben, da gibt man immer auch einen Teil von sich selbst weiter.

Hatten Sie Lampenfieber?

Immer – bis zum letzten Tag. Man muss Lampenfieber haben. Man muss sich vor einer Vorlesung energetisch aufladen.

Hatten Sie als Zivilrechtler das Gefühl, dass Ihr Fachbereich im Studium genügend Raum bekommen hat?

Das Arbeitsrecht – ja. Ich hatte aber den Eindruck, dass das Familienrecht und das Erbrecht teilweise unterschätzt werden an der HSG. Es scheint das Gefühl zu geben, als hätte das nichts mit Wirtschaft zu tun. Das ist ein Irrtum. Nur schon im Erwachsenenschutzrecht gibt es viele wirtschaftliche Aspekte, zum Beispiel die Frage der Anlage von Mündelvermögen. Ich bin momentan in einer Kommission, in der die Organisation der Erwachsenenschutzbehörden zusammen mit der Bankenvereinigung versuchen, Richtlinien zu erlassen, wie man miteinander geschäftlich umgehen soll. Fragestellungen in diesem Bereich sind in der Realität sehr kompliziert.

Wie sehen Sie als Rechtswissenschaftler das Verhältnis von Realität und Gesetzgebung? Das Recht hinkt da
der Realität schon immer ein wenig hinterher…

(Lacht auf.) Den Journalisten gebe ich jetzt die entschärfte Version eines Witzes. Wenn in der Rechtswissenschaft die Wirklichkeit und die Norm nicht übereinstimmen, dann passt man die Norm an die Wirklichkeit an. Das ist die normative Kraft des Faktischen. Wenn bei den Ökonomen die Realität und ihre Theorien nicht übereinstimmen, dann sagen die Ökonomen schnell einmal, die Realität sei falsch.

Momentan sind viele gesellschaftlichen Veränderungen im Gang: Beispielsweise wurden Konkubinatspaare immer mehr zur Normalität und der Ruf nach der «Ehe für alle» wird auch immer stärker. Glauben Sie, dass das Schweizer Familienrecht den realen Gegebenheiten der SchweizerInnen genügend Rechnung trägt?

In der Tat erleben wir momentan einen enormen gesellschaftlichen Wandel. Dieser hat vor allem auch einen wechselseitigen Einfluss auf meine beiden Hauptarbeitsgebiete, das Familienrecht und das Arbeitsrecht. Familie und Arbeit muss viel stärker in Einklang gebracht werden als früher. Diesen Wandel halte ich sogar für einschneidender als die Digitalisierung.

Haben Sie das Gefühl, dass die Schweiz anderen Ländern an Fortschrittlichkeit stark hinterherhinkt?

Das glaube ich nicht. Einerseits hat die Schweiz flexible Institutionen, andererseits war sie ein Land, welches das Konkubinat bereits schon im 19. Jahrhundert rechtlich erfasst hat. Auch im Bereich der Geschlechtsumwandlungen war die Schweiz extrem fortschrittlich und hat diese früher als andere Länder zugelassen. Gerade aber da die Schweiz in gewissen Bereichen eine Vorreiterrolle eingenommen hat, und Bereiche früher geregelt hat als andere Länder, kann es sein, dass sie von den nachkommenden Ländern an Fortschrittlichkeit aber auch teilweise überholt worden ist. Es gibt also durchaus Bereiche, wo man wieder einmal Anpassungen machen müsste.

Wenn Sie sich unsere Zivilrechtskodifikation anschauen, gibt es da etwas, das Sie gerne raustreichen würden?

Es gibt momentan eine völlig widersprüchliche Entwicklung im Familienrecht, die durchaus auch Auswirkungen auf das Arbeitsrecht hat. Einerseits wird davon ausgegangen, dass verschiedene Lebensformen bestehen sollten und dass das Individuum selbstständig sein soll. Andererseits werden im Familienrecht zugleich Änderungen umgesetzt, die eine engere wirtschaftliche Bindung schaffen. Zwei gute Beispiele wären hierzu das neue Betreuungsunterhaltsrecht und auch die Regelungen zum Vorsorgeausgleich. Man verkennt dabei einfach, dass die Realität eine wesentlich andere ist. In den letzten paar Jahrzehnten hat die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Frau stark zugenommen und der nacheheliche Unterhalt wurde damit selten in der Schweiz. Momentan ist bei nur rund 30 Prozent der Scheidungen überhaupt von einem nachehelichen Unterhalt die Rede. Das ist angesichts der hohen Anzahl von Scheidungen erstaunlich.

Sie sind auch im Vorstand der Rasa-Initiative und haben bei klirrender Kälte Unterschriften gesammelt. Was war Ihre Motivation sich dafür einzusetzen?

Man hat eine Verantwortung dafür, was in dem Staat passiert, in welchem man lebt. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass der Entscheid über die Masseneinwanderungsinitiative falsch war. Ich halte den Unterschied von etwa 20 000 Stimmen bei der Abstimmung für ein blosses Zufallsmehr. Meiner Meinung nach könnte es bloss an der Tageskondition gelegen haben oder sogar an einer Auszählungsungenauigkeit. Es war für mich ein Schrecken, dass ein derartiges Zufallsmehr so weitreichende Folgen hat, dass es sogar das Verhältnis zu Europa gefährden kann. Die Übergangsbestimmung hat vorgesehen, dass der Bundesrat Verordnungen erlassen kann, welche die bilateralen Verträge brechen würden. Mit der Rasa-Initiative lag aber dann etwas auf dem Tisch, das abstimmungsfähig war, und deshalb zu weitgehende Schritte in der Übergangsphase verhindern konnte. Das war entscheidend.

Führt eine solche Initiative nicht zu einem gewissen Vertrauensverlust und einer Politikverdrossenheit in der Bevölkerung?

Das ist ein dauernder Vorwurf. Das Stimmvolk hat aber das Recht darauf, auf etwas zurückzukommen. Jederzeit. Das ist auch nicht neu. Wenn man dieses Recht nicht gehabt hätte, hätte man auch nicht mehrmals über das Frauenstimmrecht abstimmen können. Bundesrat, Parteien und Verbände könnten Mühe haben mit einer weiteren Abstimmung, weil dann der Vorwurf kommen könnte, dass man in der Vergangenheit falsch informiert hat. Aber ich bin nicht verantwortlich dafür, dass es zu diesem Resultat gekommen ist. Ich bin nicht Politiker.

Haben Sie auch nicht vor,
Politiker zu werden?

(Energisch den Kopf schüttelnd.) Nein. Ich heisse nicht Minder. Ich bin auch sehr froh, wenn das Ganze vorbei ist, das hat mich Unmengen an Zeit und auch Geld gekostet.

Haben wir allgemein ein Problem mit der Einheit der Materie bei Volksinitiativen in der Schweiz?

Das haben wir selbstverständlich. In den letzten Jahren wurde die Volksinitiative zu einem PR-Instrument der Parteien und das ist nicht der Sinn der Sache. Wenn die CVP im Parlament sitzt und trotzdem die Volksinitiative gegen die Heiratsstrafe einfädelt, ist das fragwürdig. Parteien sollen im Parlament politisieren. Zudem sagen Initiativen wie die «No-Billag Initiative» oder die «Selbstbestimmungsinitiative» nicht, was ihr wirkliches Ziel ist. Die Masseneinwanderungsinitiative sieht nicht vor die Einwanderung zu beschränken, sondern sie sieht nur zwei Instrumente vor: Kontingente und ein Inländervorrang. Man könnte eine Million Kontingente vorsehen, die Zahl ist nicht fest definiert. Beim Inländervorrang kommt es zudem auch darauf an, wie man Inländer definiert. Wenn man sagt, jeder der einen Anspruch auf eine Arbeitsbewilligung in der Schweiz hat, ist Inländer, hat man nicht einmal ein Problem mit den Bilateralen. Diese Initiativen sind bewusst sehr schwammig gehalten. Ich halte es für undemokratisch, dem Schweizer Stimmvolk keine klaren Fragestellungen vorzulegen. Zudem ist das Parlament zögerlich, dies zum Teil auch aus politischem Kalkül. Wenn man bei der Masseneinwanderungsinitiative die Kündigung der Bilateralen reingeschrieben hätte, wäre sie nicht angenommen worden. Das habe aber jetzt nicht ich gesagt, sondern Herr Blocher während eines Radiointerviews mit mir.

Sie waren ausserdem auch Mitglied
der eidgenössischen Filmkommission. Aus welchem Film haben Sie am
meisten gelernt?

Ein Film, der nicht viel Neues gebracht hat, aber von dem ich glaube, dass er trotzdem eine grosse Bedeutung hat, ist «Die göttliche Ordnung». Es ist sehr wichtig, dass dieses geschichtliche Ereignis um die Einführung des Frauenstimmrechts immer wieder in Erinnerung gebracht wird. Auch «Der Verdingbub» war ein wichtiger Film, der sogar etwas im rechtlichen Sinne bewegt hat. «Der Kreis» ist weniger bekannt, behandelt aber die Situation der Homosexuellen in den 50- und 60er-Jahren in Zürich. Das ist meines Erachtens auch ein sehr wichtiger Schweizer Film.

Sie waren von 2007 bis 2009 Vorstand der rechtswissenschaftlichen Abteilung der HSG. Wo sehen Sie das Potenzial der Law School gegenüber anderen Jus-Fakultäten in der Schweiz?

Für die Studierenden gibt es den Vorteil, dass die Fakultät klein ist. So hat man noch Kontakt zu den ProfessorInnen. Ausserdem empfinde ich die wirtschaftsrechtliche Ausrichtung der Law School auch als wichtig. Aber man muss sie richtig verstehen. Wirtschaftsrecht heisst nicht nur Finanzmarktrecht oder Gesellschaftsrecht, sondern sollte bedeuten, dass man auch Wirtschaftsaspekte im Familienrecht behandelt.

Welche Änderungen würden Sie bei der Law School gerne umgesetzt sehen?

Die Law School muss aufpassen, dass sie im Bereich der Dozierenden nicht ausdünnt. Es ist wichtig, Lehrbeauftragte aus der Praxis zu haben. Aber es braucht auch Leute, die hier eine Position innehaben, die ihnen erlaubt, genügend zu publizieren und in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Es ist Aufgabe der Professoren, hinzustehen und in der Öffentlichkeit Dinge zu vertreten und zu erklären. Dabei ist es sehr wichtig, dass man Politik und Wissenschaft trennen kann.

Wohin führt Sie Ihr Weg nach
Ihrer Zeit an der HSG?

Ich werde versuchen, mein Engagement ein wenig abzubauen. Ich habe aber vor, viele Dinge auch weiterzuführen. Ich werde Weiterbildungsveranstaltungen im Familienrecht und Arbeitsrecht halten und weiterhin an Publikationen und Kommentaren arbeiten. Meine Tätigkeit beim Bundesgericht wird noch die nächsten drei Jahre weiterlaufen. Meiner Nachfolgerin Isabelle Wildhaber werde ich am Institut die volle Verantwortung übergeben, so dass sie ihren eigenen Stil frei von meinem Einfluss entfalten kann. Ich werde aber selbstverständlich immer noch da sein, wenn man mich brauchen sollte. In meinem Haus im Tessin, wo sich auch meine ganze Rechtsbibliothek befindet, werde ich mehr Zeit verbringen und gerne einmal ein verlängertes Wochenende in Italien einlegen. Für das blieb in den letzten Jahren aufgrund des intensiven Arbeitslebens nicht so viel Zeit.

Welchen Tipp würden Sie Studierenden mit auf den Weg geben, die noch nicht wissen, wohin ihr persönlicher Weg führen soll?

Meines Erachtens gibt es da eine gute Empfehlung: Machen Sie das, was Ihnen Spass macht. In welchem Beruf Sie auch immer sein werden, wenn er Ihnen Spass macht, dann werden Sie «reüssieren». Gerade bei den Juristen sind die Studierenden sehr unterschiedlich. Es gibt Leute, die im Beruf gerne eine gewisse Emotionalität haben, diese werden sich im Bereich Familienrecht oder Arbeitsrecht wohl fühlen. Im Wirtschaftsrecht wird es hingegen weniger emotional. Ob Bank X oder Bank Y fünf Millionen kriegt, das ist nicht eine emotionale Angelegenheit. Deswegen trifft man die Wirtschaftsjuristen auch gerne an Fussballspielen an, weil sie irgendwo ihre Emotionen rauslassen müssen.

Wie sollen wir uns an der HSG
an Sie erinnern?

Wenn ich die Studierenden für Jus begeistern konnte, würde mich das sehr freuen. Ich finde es übrigens wunderbar, wie engagiert die Studierenden hier sind.


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