«In Berkeley begraben werden, wollte ich nicht»

Vincent Kaufmann erzählt über den Vergleich zwischen der HSG und Berkeley, seine Studienzeit in der post-68er-Ära und den Wunsch, sich immer weiterzuentwickeln.

An einem regnerischen Nachmittag im Oktober treffen wir Vincent Kaufmann in einem Café in St. Gallen. Er hat uns Fotos von seinem Zuhause in der Nähe von Genf mitgebracht, wo er seine langen Wochenenden verbringt. Ganz nach St. Gallen zu ziehen, war für ihn keine Option: «St. Gallen ist eine schöne Stadt – vor allem, wenn man nicht dauernd hier ist», lacht er.

Von Berkeley nach St. Gallen

Diese Erfahrung habe er aber auch an der University of California gemacht, denn Berkeley sei nie so schön, wie wenn man nicht bleiben müsse: «Der Mythos Berkeley hat sich einfach irgendwann erschöpft, dann klaffen Erwartung und Wirklichkeit zu weit auseinander.» Kaufmann hatte das Gefühl, in einer abgeschnittenen Welt zu leben, in der sich die Akademiker, insbesondere jene, die aus dem Ausland in die USA gekommen waren, nur untereinander austauschten und sich mit der Gesellschaft ausserhalb der Uni kaum vermischten. Es sei schwer gewesen, aus dieser Situation auszubrechen, und so entstand das Gefühl ausschliesslich Akademiker zu sein, und sonst nichts: «Das macht man, bis man stirbt, aber in Berkeley sterben und begraben werden, wollte ich nicht.»
Als Akademiker sieht sich Vincent Kaufmann selbst nicht: «Ich habe jahrelang nicht bemerkt, dass ich angeblich in der Wissenschaft sein soll – ich habe Bücher geschrieben, aber für mich sind das eher Essays. Meine Vorbilder sind eher Autoren als Akademiker, so wie Roland Barthes und Michel Foucault.» Er selbst würde sich als Essayist bezeichnen. Professor und Institutsleiter ist er trotzdem sehr gerne. Aber sein Werdegang sei wahrscheinlich jungen Kulturwissenschaftlern, die heute in die Forschung einsteigen, nicht unbedingt zu empfehlen.

Revolutionär, Regisseur…Professor

Um Vincent Kaufmanns Werdegang zu verstehen, muss man die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Er machte 1973 in einer «post-68er-Atmosphäre», wie er sie nennt, seine Matura. Zu dieser Zeit habe ein Übergang vom politischen zum kulturellen Aktivismus stattgefunden. «Für die klassischen linksextremen Bewegungen bin ich etwas zu spät gekommen», lacht Kaufmann. Der Entscheid, in Genf Literatur zu studieren, sei dennoch mit einer vagen politisch-kulturellen Perspektive verbunden gewesen: «Die Idee war eigentlich: Man muss sich mit Kultur beschäftigen, weil man damit die nächste grosse Revolution mit vorbereiten könne.» Mit diesem Anspruch habe er sein Studium aufgenommen. Mit der Zeit verblasste dieser aber, Kaufmann nahm sich viel Zeit für sein Studium, das er zu diesem Zeitpunkt als Vorbereitung und Grundlage für eine weiterführende Theater- oder Filmschule sah. Denn der Professor wollte ursprünglich Regisseur werden. «Ich musste dann aber feststellen, dass man nicht einfach so Filmregisseur wird und dass ich, was Theater und Schauspiel angeht, überhaupt nicht begabt bin.» Gleichzeitig habe er sich für die Inhalte seines Studiums immer mehr begeistert, so dass er sich entschied, tiefergehend zu forschen und seine Dissertation zu schreiben.

Der HSG-Effekt

«Als Kulturwissenschaftler in St. Gallen ist man entweder in einer Situation, in der man bedauert, dass man nicht an einer richtigen philosophischen Fakultät ist, oder man passt sich an, versucht, sich mit den Kernfächern auseinanderzusetzen und wird vielleicht auch noch unternehmerisch – das habe ich jedenfalls gemacht.» So hat er seit der Aufnahme seiner Tätigkeit an der Universität extern verschiedene Projekte angestossen und begleitet unter anderem das Netzwerk Film CH, oder die Académie du Journalisme et des Médias an der Universität Neuenburg. Sein letztes, gerade jetzt abgschlossenes Projekt am MCM ist die Bux App, die es erlaubt, anhand von Augmented Reality literarische Werke bei Spaziergängen durch Zürich selbst zu erleben und zu erkunden. «Wir greifen damit den Situationismus auf, eine avantgardistische Bewegung in den 50er- und 60er-Jahren, die dieses «Stadt-Drifting» erfunden haben: Man spaziert durch die Stadt und ist offen für alles, was man dort wahrnehmen kann, sozusagen. Erlebte Poesie der Stadt.» Diese Weiterentwicklung vom Theoretischen ins Unternehmerische mit der Gründung einer GmbH namens New Babylon Creations findet Kaufmann wichtig und spannend. Erst kürzlich, bei einem weiteren Aufenthalt an der Yale University, sei ihm aufgefallen, wie wenig sich dort im Laufe der letzten zwanzig Jahre verändert habe und dass alle Akademikerkollegen im Prinzip das gleiche täten wie schon zu Beginn ihrer Karriere. Kaufmann selbst kann sich damit nicht identifizieren: «Ich habe immer neue Sachen ausprobiert und mich nie als Spezialist für genau ein Thema etabliert – so möchte ich es auch weiterführen.»

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Immer wieder in die USA

Unmittelbar nach Abgabe seiner Dissertation nahm Vincent Kaufmann nacheinander Stellen als Visiting Assistant Professor an der University of Michigan, UC Berkeley und an der Johns Hopkins University in Baltimore an. «In die USA zu gehen war einerseits ein Traum und mit sehr viel Prestige verbunden, andererseits gehörte es in meinem beruflichen Milieu dazu», erzählt er. Viele der europäischen (vor allem französischen) Theoretiker mit Fokus auf die Avantgarden, Anhänger der sogenannten «French Theory» waren zu dieser Zeit in den USA sehr präsent. Da habe er dann auch hingewollt, um mittendrin zu sein, schmunzelt Kaufmann. «Ich habe das nie bedauert. Man lernt unglaublich viel und schnell, wenn man sich in so eine total andere Situation versetzen muss.» So nahm er eine Professur in Berkeley an.

«Die HSG ist im Vergleich zu anderen Unis besonders»

Zwischen den Kulturen an den Universitäten in den USA und der Schweiz sieht der Professor grosse Unterschiede. «So grosse, dass ich mir erst mal überlegen muss, was die Gemeinsamkeiten sind», sagt er. Die HSG sei auch im Vergleich zu anderen Schweizer Universitäten sehr atypisch. Die Dozenten und Professoren würden hier eine Freiheit geniessen, die Vincent Kaufmann unglaublich schätzt. Dadurch gebe es kaum interne Machtkämpfe sondern ein konstruktives Klima der gegenseitigen Unterstützung. «Ausserdem ist das besondere an St. Gallen die Qualität der Studenten. Andererseits ist es hier so, dass die Perspektive der Studenten sehr funktionell ist: Sie machen, was sie machen müssen, und nicht viel mehr oder viel Anderes.» Das sieht Kaufmann kritisch, wobei er sich auch bewusst ist, dass diese Veränderung sich wahrscheinlich nicht nur an der HSG vollzogen hat, sondern der heutigen Zeit geschuldet ist. Als er studiert habe, sei das anders gewesen, ungefähr achtzig Prozent seiner Arbeit für das Studium, schätzt Kaufmann, sei freiwillig gewesen: «Das meiste, das ich gelesen habe, musste ich nicht lesen.» Er will dies aber nicht als Vorwurf verstanden wissen. Diese Veränderung, erklärt er, habe sicher auch mit dem Druck zu tun, unter dem die Studenten heute stehen, wodurch die intellektuelle Neugierde oft ein wenig zu kurz kommt.

Unkonventionelle Methoden

Diese hat Kaufmann für sich behalten. Er spielt gerne mit den Medien und hält ihnen den Spiegel vor. Dafür wählt er oft auch unkonventionelle Methoden, schreibt vielleicht Abhandlungen über Autoren, die es gar nicht gibt, aus Spass oder um zu demonstrieren, dass Systeme nur funktionieren, weil man daran glaubt. Oder er veranstaltet eine Podiumsdiskussion zum Thema Plagiat mit Helene Hegemann, die mit der Kontroverse um ihren Roman Axolotl Roadkill viel Aufsehen erregte, lässt für sie aber auf der Bühne eine Schauspielerin auftreten und treibt damit den eigentlichen Diskussionsgegenstand auf die Spitze. «Faszinierenderweise sind wir damit, wie damals schon Helene Hegemann, tatsächlich durchgekommen.» Trotz der grossen Medienpräsenz, die die Autorin damals genoss, habe von allen zweihundert Diskussionsteilnehmern und Zuschauern zu seiner Verwunderung nur eine Person das Spiel durchschaut, erklärt er. Die sei jetzt auch Geschäftsführerin von New Babylon Creations geworden – vielleicht nicht ganz ein Zufall.

Bilder zvg

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