Von der Kutsche zum Benz

«Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.» Das Zitat von Hermann Hesse ziert den Jahresbericht des Instituts für Rechtsmedizin in Zürich. Direktor Michael Thali erklärt im Interview, wie hier das Unmögliche möglich gemacht wird.

Michael Thali spricht freundlich und engagiert. Er verweist auf Fachliteratur, holt zur Veranschaulichung ein Modell aus dem Büro und bleibt trotz der Mittagszeit geduldig erklärend. Vielleicht ein Attribut von jemandem, der in der Lehre und Forschung zuhause ist. Jedoch bietet das rechtsmedizinische Institut neben Lehre und Forschung auch Dienstleistungen. So wurden 2015 in der Abteilung «Forensische Medizin und Bildgebung» über 1000 Inspektionen von aussergewöhnlichen Todesfällen, sogenannte Legalinspektionen, durchgeführt. Bei der Hälfte davon, 500 im letzten Jahr, wurde eine Obduktion vorgenommen, um die Todesursache bestimmen zu können.

Thali ist durch Zufall in der Rechtsmedizin gelandet. Vor einer Vertiefung in die Orthopädie entschied er sich für einen Abstecher in ein Forschungsprojekt der Universität Bern. Dort arbeitete er an synthetischen Körpermodellen und leistete mit seinem Team Pionierarbeit in der Virtopsy. Noch heute sind synthetische Köpermodelle und die Virtopsy seine Leidenschaft. Beide Bereiche werden am Zürcher Institut weiterentwickelt.

Sekundenschnelle Alternative

Die Virtopsy ist eine dreidimensionale, bildgebende Dokumentation eines Körpers. Dabei kommen 3D-Oberflächenscanning, Computertomografie, Magnetresonanztomografie und Angiografie zum Einsatz. In nur zehn Sekunden wird der Körper vom Scheitel bis zur Sohle gescannt. Dadurch sollen Behandlungsfehler oder Tötungsdelikte ohne invasive Eingriffe ermittelt werden. «Sozusagen von der Kutsche zum Benz», meint Professor Thali nicht ohne Stolz. Heute schon werden zehn Prozent der jährlichen Obduktionen durch die Virtopsy ersetzt. Das heisst, nach einem ersten Scanning ist die Todesursache genug klar ersichtlich, um den Körper nicht öffnen zu müssen.

Auch bringt die Virtopsy Kostenvorteile gegenüber einer Obduktion. 600 Franken kostet ein Ganzkörperscanning – so viel wird im Krankenhaus für das CT einer einzigen Körperregion bezahlt. Ein beträchtlicher Unterschied zur Autopsie, die mit rund 1500 bis 3000 Franken in der Schweiz noch künstlich günstig gehalten wird (der eigentliche Selbstkostenpreis beläuft sich auf 4500 Franken). In Zukunft soll ein Grossteil der klassischen Autopsien durch die Virtopsy ersetzt werden. «Ob alle abgelöst werden, das wird die Zukunft zeigen.»

Forschung zwischen DNA und Körper

Das rechtsmedizinische Institut Zürichs ist global eines der führenden Institute im Bereich der Bildgebung. Ein Projekt, das die Teilbereiche miteinander verbindet, ist das Pharmaco-Genetic-Imaging. Damit soll der Körper in 3D erfasst werden. Zum einen soll von einer DNA-Spur ein Phantombild eines Menschen geschaffen werden. Was sich futuristisch anhört, ist heute teilweise schon möglich. Beispielsweise gibt eine Spur Speichel heute schon Aufschluss über Augenfarbe, Haarfarbe, Haarstruktur und Hautfarbe. In Zukunft sollen noch mehr, noch konkretere Informationen aus der DNA gezogen werden. Dies könnte sich etwa bei einem Tatort als bahnbrechend erweisen. Zum anderen sollen mit dem Imaging eines Körpers Alkohol, Drogen und gar der Genfaden sichtbar gemacht werden – alles ohne invasive Eingriffe. Alkohol ist leichter zu erkennen; die Moleküle sind grösser und somit der Magnetresonanzspektroskopie einfacher zu erfassen. Drogenmoleküle sind kleiner und etwas kniffliger, jedoch wäre das Imaging des winzigen Genfadens der revolutionärste Durchbruch. Dies ist der Höhepunkt der Vision des Zürcher Instituts. Gelingt dies, so könnte vom Gen aufs Dreidimensionale und wieder zurück auf das Gen geschlossen werden.

Ein Tag in der Rechtsmedizin

Das hört sich alles sehr futuristisch an. Doch wie sieht ein durchschnittlicher Tag des Institut-Direktors aus? «In der Rechtsmedizin weiss man nie, was der Tag bringt.» Gewisse Strukturen bestimmen jedoch Professor Thalis Tagesablauf. Schon über Nacht werden Untersuchungen von Todesfällen oder Lebenduntersuchungen vorgenommen. Die Assistenzärzte sind rund um die Uhr erreichbar und wechseln sich im Tages- und Nachtdienst ab. So wird sichergestellt, dass bei einem Vorfall möglichst schnell Inspektionen vorgenommen werden können. Das Zürcher Institut für Rechtsmedizin nimmt Aufträge vom Kanton Zürich, der Zentralschweiz und Schaffhausen entgegen. Zudem umfasst es selbst vier Abteilungen: die Forensische Medizin und Bildgebung, die Verkehrsmedizin, die Forensische Pharmakologie und Toxikologie sowie die Forensische Genetik. Insgesamt 180 Mitarbeiter sind in den Abteilungen tätig. Eine reibungslose Koordination ist somit keine leichte Aufgabe.

Spannungsfeld Bildung, Justiz und Polizei

Im Spannungsfeld zwischen Bildung, Justiz und Polizei balanciert das Institut zwischen dem universitären Anspruch, Lehre und Forschung weiterzuentwickeln und den Dienstleistungen an Polizei und Staatsanwaltschaft. Durch die Anbindung an die Universität wird die Unabhängigkeit des Instituts gegenüber den Auftraggebern gewährleistet, jedoch wird es teilweise von den Auftraggebern beeinflusst; beispielsweise durch Sparmassnahmen von Justiz und Polizei.

Das Endprodukt der Rechtsmedizin ist das Gutachten für die Staatsanwaltschaft. Ein Rechtshintergrund ist dafür nicht vorgeschrieben. Jedoch sind rechtliche Grundkenntnisse von Vorteil, so Professor Thali. Das Institut ist der Zulieferer; wird das Gutachten richtig zubereitet und sind die Details zur Todesursache etwa bei Gefährdung des Lebens, schwere Körperverletzung oder Tötungsvorsatz ausführlich beschrieben, so können die Juristen es mit ihrem eigenen Besteck, etwa den Paragraphen, abholen und weiterverwenden: So wird die Zusammenarbeit erleichtert. «Schliesslich hassen Juristen nichts mehr, als Wischiwaschi-Gutachten.»

Mehr als Fachwissen gefragt

Professor Thali leitet das Zürcher Institut seit nunmehr fünf Jahren. Eine Beförderung wird aufgrund von akademischen Leistungen angeboten – das Management von 180 Personen erfordert jedoch nicht nur Fachwissen: Die Führungsposition trägt Verantwortung im Bereich der Finanzen, Human Resources oder für effiziente Strategien zur Problemlösung.

Um die Managementaufgaben erfolgreich meistern zu können, hat Professor Thali einen MBA an der Universität St.Gallen absolviert. Dieser hat ihm in der Führungsposition um einiges weitergeholfen, so Professor Thali: «Es erleichtert die Arbeit, im Gespräch mit den Finanzexperten Deckungsbeiträge, Skaleneffekte oder variable Kosten kennen und verstehen gelernt zu haben.»

Das Rechtsmedizinische Institut Zürich will in seiner Vision das Unmögliche versuchen. Es bleibt spannend zu sehen, was die Zukunft der Rechtsmedizin unter dem Pionier Michel Thali und seinem Team für die Rechtsmedizin bereit hält.


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