Am kommenden Sonntag stimmt die Stadt St. Gallen über die Volksinitiative „Gratis ÖV für unter 25-Jährige“ der Jungsozialisten (JUSO) ab. Wie sich unschwer aus dem Titel ableiten lässt, soll Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Busbillett mit öffentlichen Geldern bezahlt werden. Ziel der Partei ist es, Familien zu entlasten, den öffentlichen Verkehr als Service public zu stärken und die Standortattraktivität der Stadt zu erhöhen. Ob diese Ziele erreicht werden können und ob die Umsetzung immer noch so verlockend daherkäme wie es der Titel der Initiative suggeriert, erscheint aus mehreren Gründen fraglich.
Ohne Weiteres leuchtet ein, dass Familien mit Kindern, die auf ihrem Schulweg unter Umständen auf den Bus angewiesen sind, finanziell entlastet würden. So fordert die Initiative denn auch den kostenlosen Fahrschein für Kinder ab sechs Jahren. Diesem Anliegen könnte wohl aber auch mit weniger weitgehenden Massnahmen Rechnung getragen werden, zum Beispiel indem nur Schulkinder von der Bezahlpflicht ausgenommen werden. Die JUSO sieht aber auch eine über das Kindesalter hinausgehende Anreizwirkung als Grund für die Tarifabschaffung. So argumentiert sie, dass bei jungen Erwachsenen damit ein weniger grosser Anreiz besteht, den Führerausweis zu erlangen und aufs Auto umzusteigen. Ob sich wirklich Leute finden lassen, die auf das Ablegen der Führerprüfung verzichten, nur weil der öffentliche Verkehr kostenlos ist, darf jedoch stark bezweifelt werden. Vielmehr dürften andere Gründe den Anlass bilden, mit Bus und Zug unterwegs zu sein.
Eine andere generelle Frage stellt sich bei der Ziehung der Altersgrenze. Warum ausgerechnet bis zum 25. Altersjahr der öffentliche Verkehr gratis sein soll, leuchtet – auch vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen – nicht unmittelbar ein. Es macht im Gegenteil den Anschein einer willkürlichen Aufspaltung der Reisenden in Bezahler und Nichtbezahler. Dadurch entsteht eine Ungleichbehandlung, die sachlich nicht zu überzeugen vermag. Warum soll die Grenze nicht bei 20, 30 oder 50 Jahren liegen? Wollte man eine bestimmte Gruppe wirklich von der Billettpflicht ausnehmen, ist das Alter wohl kaum ein angemessenes Differenzierungskriterium. Eher sollte auf bestimmte Lebenslagen – wie beispielsweise eine Schulausbildung – abgestellt werden; oder man wählt die konsequente Variante und erlässt allen den Fahrpreis.
Von einem solchen Vorhaben wird wahrscheinlich aus einem einzigen Grund abgesehen: die Kosten wären wohl exorbitant. Beim aktuellen Anliegen betragen sie nach Angaben der JUSO bereits vier Millionen Franken, folgt man den Berechnungen des Stadtrats dürften sie bei sieben Millionen liegen. Inwiefern der öffentliche Verkehr gestärkt werden kann, indem auf einen Teil der Einnahmen verzichtet wird, ist fraglich. Natürlich wird die Nachfrage mit der Zeit unter Umständen steigen. Ob in Zeiten leerer Staatskassen und dauernder Tariferhöhungen bei Bus und Bahn zur Kostenüberwälzung ein entsprechender Ausbau des Angebots jedoch möglich ist und realisiert wird, darf stark bezweifelt werden. Nebst den allfällig benötigten Mitteln für die Angebotserweiterung, dürften auch in der Verwaltung für Distribution und Bearbeitung weitere Aufwendungen nötig werden. Ob die Initiative hier eine kostendeckende Gebühr zulässt, müsste sich erst in der Praxis zeigen.
Schliesslich werden auch viele Studierende den Initianten frohlockt haben, würde doch – zumindest dem Titel nach – ein Grossteil von ihnen ebenfalls von freier Fahrt auf dem Netz der VBSG profitieren. Diese Auffassung greift zu kurz. Der von der JUSO verlangte Reglementstext spricht in der ersten Ziffer von „Personen mit Wohnsitz in der Stadt St. Gallen […] vom vollendeten 6. bis zum vollendeten 25. Altersjahr […]“, die Anspruch auf ein bezahltes Jahresabonnement haben. Der Knackpunkt ist hier das Abstellen auf den Wohnsitz in der Stadt St. Gallen. Ein anderer als der polizeiliche Wohnsitz kann prinzipiell nicht gemeint sein. Dieser befindet sich am Ort, wo die Schriften hinterlegt sind und die politischen Rechte ausgeübt werden, grundsätzlich also nicht am Ort des Wochenaufenthalts. Damit dürfte ein überwiegender Anteil der Studierenden der HSG bereits aus der Gruppe der Berechtigten herausfallen, insbesondere wenn man sich die Angaben der Uni zur Zusammensetzung nach Herkunft vor Augen führt. Lediglich acht Prozent stammen aus der Region Appenzell AR – St. Gallen – Bodensee[1], die Stadt selbst dürfte einen bedeutend kleineren Anteil ausmachen. Dass viele dieser acht Prozent einen neuen Wohnsitz in St. Gallen begründet haben, darf nicht leichthin angenommen werden. Der Effekt für die Studierenden wäre also marginal.
Zusammenfassend erscheinen mir die gesetzten Ziele der Bindung junger Erwachsener und der Stärkung des öffentlichen Verkehrs mit den vorgeschlagenen Massnahmen schwierig zu erreichen. Ein Zusammenhang zwischen dem Entschluss, die Führerprüfung nicht abzulegen und nur den öffentlichen Verkehr zu nutzen, weil dieser gratis ist, erschliesst sich mir nicht unmittelbar. Zudem wird gerade mit dem Verzicht auf Billetteinnahmen dem öffentlichen Verkehr ein – wenn auch kleiner – Teil der Grundlage für einen Leistungsausbau entzogen. Letzten Endes hat die Vorlage für die meisten Studierenden aber ohnehin nur eine geringe Bedeutung. Gespannt sein auf das Abstimmungsresultat darf man aber allemal, geht es doch auch darum zu sehen, wie die Gesellschaft generell auf solche Ideen reagiert.
Das Stimmvolk der Stadt St. Gallen entscheidet am kommenden Sonntag, 17. Juni 2012, über die Volksinitiative der JUSO. Die Urnen schliessen um 12.00 Uhr. Mit Resultaten darf am selben Tag gerechnet werden.
[1] Universität St. Gallen, Regionale Effekte der HSG, Bericht der Universität St. Gallen für das Jahr 2010, St. Gallen 2012.
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