Präsidialer Kurzbesuch

Bill Clintons Stippvisite an der HSG anlässlich der Gründung des Center for Disability and Integration (CDI-HSG)

Diese Frage brennt den anwesenden Journalisten im überfüllten Pressesaal unter den Fingern. Endlich traut sich einer, sie auszusprechen. «Warum», so der gutgekleidete Reporter einer grossen Schweizer Tageszeitung, «kommt der amerikanische Ex-Präsident extra für eine Einweihung des Behindertenzentrums in das kleine Städtchen St. Gallen?» Die Organisatoren schmunzeln, sie sind auf diese Frage vorbereitet. Nach kurzer Pause ergreift der Präsident des Sponsors «MyHandicap», Joachim Schoss, das Wort: «Sehen Sie, als wir vor einem Jahr ankündigten, dass wir das CDI gründen wollen, waren gerade mal drei ihrer Kollegen bei der Pressekonferenz anwesend. Heute aber» – er lässt zufrieden den Blick durch den Raum schweifen – «sind es ein doch ein paar mehr geworden …»

Tatsächlich, das Organisationsteam um Schoss und die beiden CDI-Direktoren Dr. Eva Deuchert und Dr. Stephan Böhm haben an diesem Novembertag eine Meisterleistung in Sachen PR-Arbeit abgeliefert. Überregionale Tageszeitungen aus der Schweiz und Deutschland sowie das Schweizer Fernsehen berichten über den Besuch des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und kommen dabei nicht umhin, auf das neue Center hinzuweisen. Das Thema Behinderung und Integration ist Bestandteil der medialen Aufmerksamkeit, und genau das ist das Ziel der Veranstalter.

Das Potenzial aller Menschen

Clinton selbst, der als Ehrenschirmherr der Stiftung «MyHandicap» ohne Gage in St. Gallen spricht, zeigt sich in seiner stark von amerikanischem Ethos geprägten Rede überzeugt von der Maxime, aus allen Menschen das Bestmögliche herauszuholen. «Wir müssen uns auf die Fähigkeiten von Menschen konzentrieren, nicht auf deren Beschränkungen.» Viele persönliche Begegnungen mit Behinderten hätten ihm gezeigt, wie viel Optimismus in diesen Menschen stecke und welche Kraft von ihnen ausgehe. Deshalb ist es sowohl die Aufgabe der Gesellschaft als auch der Wirtschaft, das Potenzial von Behinderten zu nutzen, ihnen in allen Lebenslagen beizustehen und Integrationsmassnahmen einzuleiten. Das neugeschaffene Center konzentriert sich auf diese unterstützenden Leistungen und kann deshalb nicht genug im Fokus der Öffentlichkeit stehen.

Clintons 40-minütige Rede war geprägt von seiner Affinität für NGOs, angereichert mit persönlichen Geschichten, die der Weltenbummler im Laufe der Jahre erlebt hat. Diese aneinandergereihten Episoden haben hohen Symbolwert, doch merkt man ihnen an, dass sie schon oft erzählt wurden, dem aktuellen Anlass jeweils angepasst. Und so muss die Frage erlaubt sein, warum bei der Gründung eines Behindertenzentrums in der Ostschweiz die Problematik der Energiegewinnung Haitis lang und breit erklärt wird, und welche Verbindung hierbei zur Behindertenintegration besteht. Natürlich ist es verständlich, dass ein Bill Clinton nicht für jeden seiner zahlreichen Auftritte in der ganzen Welt eine neue und spezielle Rede vorbereitet. Aber ein wenig enttäuscht ist man eben doch, dass er es nicht tut.

Brückenschlag zwischen Uni und Praxis

Im Vorfeld der Rede stellten in einer Pressekonferenz Rektor Ernst Mohr, «MyHandicap»-Präsident Schoss sowie die CDI-Direktoren Deuchert und Böhm die Aufgaben und Ziele des neuen Instituts vor. «Zentral sei», erklärte Böhm, «die enge Zusammenarbeit mit den Unternehmen, um die berufliche Integration von Behinderten zu erreichen». Die Verankerung an der Universität St. Gallen solle dabei den Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Praxis ermöglichen. Dass dieser Austausch zwischen Universität und Unternehmen bereits funktioniert, bewiesen die Vorträge von Unternehmensvertretern der METRO Group sowie der Federtechnik Kaltbrunn & Wangs AG. In diesen Betrieben laufen bereits Programme, die das Potenzial der Menschen in den Vordergrund stellen und dadurch sehr positive Resultate verzeichnen. Dabei handeln die Unternehmen jedoch nicht allein aus altruistischen Motiven, sondern stellen sich akuten gesellschaftlichen Problemen: «Allein aufgrund der demografischen Entwicklung kann man es sich nicht erlauben, einen so grossen Anteil der Bevölkerung, wie ihn behinderte Menschen darstellen, aus der wirtschaftlichen Sphäre auszuschliessen», meinte der Metro-Personalvorstand Zygmunt Mierdorf. Zudem, so Mierdorf weiter, sei die Rentabilität bei der Anstellung eines Behinderten kein Problem, wenn man den richtigen Einsatzbereich wähle.

Fachkompetenz als Voraussetzung

Rektor Ernst Mohr sah die HSG als «gutes Umfeld für die Erforschung dieser Thematik». Nach und nach sollen die Projekte und Ergebnisse des CDI-HSG auch in den Lehrbetrieb integriert werden. Der beeindruckendste Vortrag kam von Dr. Nils Jent, Projektleiter Angewandte Disability-Forschung am CDI-HSG und selbst seit einem Motorradunfall körper- und sprechbehindert sowie blind. Wichtig sei vor allem die Fachkompetenz der Behinderten, wenn sie im beruflichen Umfeld Erfolg haben wollen, so Jent. Doch bietet die Integration von Behinderten eine grosse Chance für alle Unternehmen: «Die meisten Menschen sehen, was ich nicht sehe. Dagegen finde ich heraus, was sie nicht sehen.»


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