“Ich springe den Leuten ins Auge”

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Charlotte ist zwar nicht Mainstream, dennoch ist die Coiffeuse ein begehrtes Mannequin in der Gothic-Szene. Im Interview mit prisma steht sie Rede und Antwort. Dabei spricht sie über Friedhöfe und ihr Empfinden von Schönheit.

Wie bist du überhaupt in die Gothic Szene gekommen?
Daran ist meine Mutter schuld. Sie hat mich einmal in London nach Camden mitgenommen. Dort habe ich Frauen in wunderschönen Gothic-Kleidern gesehen. Das hat mich total fasziniert und ich wusste, dass ich so auch mal aussehen wollte. Die ganze Szene ist sehr düster ausgerichtet. Die Fantasy-Welt, Elfen und die Musik finde ich super.

Was sind in etwa die typischen Vorurteile?
Dass man ganz in schwarz nachts auf Friedhöfe geht und extreme Musik hört. Aber für mich bedeutet die Szene vor allem, mich mit Leuten zu treffen, mit denen ich gut reden kann, mit denen ich viele Ideen und Vorstellungen teile. Man kann gemeinsam Musik hören, Partys feiern und die Zeit geniessen. Dadurch, dass man sich sehr speziell kleidet, grenzt man sich auch von der Umwelt ab. Man könnte auch von einer Flucht aus dem Alltag sprechen. Wenn man sich verkleidet, kann man sich irgendwie auch verstecken. Ich wollte mir durch mein Aussehen meine eigene Welt schaffen.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Gothic und einem Grufti?
Grufti ist eher ein abschätziger Ausdruck für Menschen, die so aussehen wie ich. Untereinander nennen wir uns Gruftis. Wird man von einem Szenenfremden so genannt, ist der Begriff sehr verletzend.

Was habt ihr für ein Wertesystem? Zelebriert ihr das Böse?
Ist dunkel denn böse? Ich denke, das liegt im Auge des Betrachters! Die Szene ist für mich kein Zelebrieren des Bösen sondern eine Faszination für das «Andere». Für Aussenstehende ist die Szene nicht verständlich, man kann uns nicht so genau einordnen. Das macht uns unberechenbar und gibt ein düsteres Bild.

Wie nehmen dich fremde Leute wahr?
Auf der Strasse habe ich öfters Probleme mit meinem Aussehen. Ich bin ein leichtes Opfer für verbale Attacken. Ich springe den Leuten ins Auge.

Also wirst du öfters auch von Fremden angesprochen?
Ja klar. Kinder glauben, ich sei eine Elfe, alte Menschen wundern sich, was heute alles möglich ist. Es sind oftmals auch positive Reaktionen. Aber die Mittelschicht findet es wohl eher etwas speziell.

Also die Spiesser?
Ja genau, die schauen einen dann von oben bis unten an und schütteln den Kopf.

Wolltest du schon einmal gezielt Reaktionen provozieren und beobachten?
Ich laufe jeden Tag mit blauen Haaren herum, das provoziert genug.

Was ist das Schlimmste, was dir jemals als Reaktion auf dein Äusseres passiert ist?
Mit der Zeit nimmt man es gar nicht mehr so wahr. Man lässt die Leute nicht mehr an sich heran. Früher war es schon schwierig, wenn einem auf der Strasse «Satanist» nachgerufen wurde oder man gefragt wurde, ob man auf dem Weg zum Friedhof sei. Aber jetzt mit den farbigen Haaren hat sich das geändert. Jetzt werde ich eher als Punk oder Emo bezeichnet. Aber das trifft mich eigentlich nicht. Wenn man so herumläuft, rechnet man damit, dass man mal blöd angeredet wird.

Was ist für dich schön?
Wenn etwas anders ist, finde ich es schön! Ich bin kein Fan von Solarien und blond gefärbten Haaren. Ich habe wohl eher eine unkonventionelle Meinung zur Schönheit. Aber das ist auch gut so. Ich ziehe durch mein Aussehen eher Menschen an, die ein ähnliches Bild von Schönheit haben. Man steht auf das, was man selber verkörpern will.

Was willst du verkörpern?
Ich will nicht etwas Bestimmtes verkörpern. Ich halte mich an keine Regeln, wenn es um mein Aussehen geht. Wenn mir etwas gefällt, dann nehme ich das in meinen persönlichen Stil mit auf.

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Du arbeitest als Model. Was sind denn das für Fotos?
Also Shootings auf Friedhöfen mache ich nicht. Die Motive sind verschieden, aber schon immer mit dem Thema Gothic. Ich muss als Fotomodell keinem Stereotyp entsprechen, sondern kann meinen persönlichen Stil mit einbringen, was das Ganze für mich interessanter macht.

Was war dein extremster Look?
Der Lolita-Stil ist für Fremde wohl am extremsten. Ich hatte oft Korsetts an mit kurzen Röcken. Dazu Plateauschuhe, Strümpfe und ein Krönchen. Für mich persönlich war es krass, ganz in weiss an eine Gothic-Party zu gehen. Alle waren schwarz gekleidet. Ich habe in dem Raum richtiggehend geleuchtet.

Du sprichst von dir als Lolita. Hat das Ganze auch eine sexuelle Komponente?
Nein, für mich persönlich nicht. Aber es gibt viele Gothics, die sich auch in der Fetisch-Szene bewegen. Mich spricht das jedoch nicht an.

Wie möchtest du dich weiter verändern?
Mein Traum wäre ein grosses Tattoo auf der Seite, an der Taille. Und dann noch ein Lippen-Piercing. Mehr möchte ich nicht. Ich habe eine genaue Vorstellung davon, wie ich aussehen will.

Wenn du den typischen HSG-Studenten dir vorstellst: Ist dir das total fremd?
Es ist mir nicht fremd. Ich finde dann eher: «Hübsches Gesicht, aber schade um den Rest.» Dieser Stil spricht mich nicht besonders an, aber wenn es der Person gefällt, stört mich das nicht. Ich würde wohl nicht unbedingt auf eine solche Person zugehen. Ich glaube, wir hätten nicht viel gemeinsam.

Wie sieht dein Traumtyp aus?
Das Gesicht ist mir total wichtig. Ich mag feine Gesichtszüge. Und natürlich gefallen mir bleiche Männer mit schwarz gefärbten Haaren und vielen Piercings und Tattoos.

Siehst du dich noch in 50 Jahren im Gothic-Stil?
Ich kann nicht sagen, was die Zukunft bringt, aber ich werde mich sicher immer wieder verändern. Man provoziert mit seinem Äusseren unterschiedliche Reaktionen. Mir gefällt dieses Experimentieren. Mein Aussehen ist wie eine Art Hobby. Während andere Menschen vielleicht Briefmarken sammeln, faszinieren mich die Modifikationen des menschlichen Körpers.

Wolltest du nie aus der Szene raus?
Nein, auf keinen Fall. Aber ich bin immer auf der Suche nach etwas Neuem. In anderen Szenen habe ich ganz neue Welten entdeckt. Ich habe Freude am Experimentieren. Das finde ich wichtig, sonst wird man intolerant. Man muss offen bleiben. Aber man ist ja frei, neue Dinge auszuprobieren. Zurück kann man immer.

Wolltest du schon immer mal irgendetwas der breiten Masse sagen?
Ich finde die Entwicklung in der Gesellschaft schön, dass alles, was anders ist, immer mehr akzeptiert wird. Die Leute sollten nicht versuchen anders zu sein, weil das gerade in ist. Man sollte zu sich stehen und so sein, wie man wirklich ist.


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