Flucht in die mediale Traumwelt

Das Geschäft mit unseren Träumen blüht. Unzufrieden mit unserer Wirklichkeit flüchten wir uns in Träume – und kehren nicht immer zurück.

Mit einem Reigen an Computeranimationen und Spezialeffekten schuf Regisseur James Cameron mit «Avatar» eine eindrückliche Fantasiewelt und bewies damit eines: Wir sind richtig gut darin geworden, Traumwelten zu erschaffen – und zu verkaufen. Vielleicht zu gut? Zu Recht nennt man Hollywood eine Traumfabrik, aber längst wird das Geschäft mit unseren Fantasien und Wünschen weltweit betrieben. Das TV-Programm ist verseucht von Casting Shows und ihren Credos: «Lebe deinen Traum», «Gib alles für deinen Traum», «Star zu werden, ist mein grösster Traum». Die gesamte Rhetorik ist besetzt vom Konnotat des unerfüllten Wunschtraums, begleitet von Bohlen und seinesgleichen, die mit viel Pathos die baldige Erfüllung predigen. Schall und Rauch, den wir uns herbei sehnen, sei es als Zuschauer oder Teilnehmer. Weil wir vom Ausstieg fasziniert sind und den Ausbruch aus dem Alltag wagen möchten. Aber wir tun es nicht. Zu angenehm haben wir uns gebettet. Doch der Fluchtgedanke bleibt, wie eine Erbse, auf welcher wir uns unruhig hin und her wälzen – eine goldene Erbse, aus Sicht der Unterhaltungsindustrie.

Träumen

Wenn wir Unterhaltung konsumieren, sei es als Kinobesucher, Fernsehschauender, Hörer oder Leser, machen wir das aufgrund eines Fluchtmotivs. Sich auf ein Buch oder einen Film einzulassen ist ein geistiges Wellness-Erlebnis. Entscheidend ist aber, ob man aus der Traumwelt wieder zurückfindet. Die Rückkehr in die Wirklichkeit ist umso ernüchternder, je weiter man sich eingegraben hat; umso lieber würden wir dort bleiben. Die meisten unserer Ausflüge sind zu kurz, als dass uns die Rückkehr wirklich schwerfällt. Ein Film ist nach zwei Stunden vorbei. Wer es sich aber gönnte, tage- und nächtelang in die Welt von J. R. R. Tolkien einzutauchen, der bekam zweifelsohne die Nachwirkungen zu spüren. Tolkiens Traumwelt fasziniert Tausende. Abenteuer, heroische Protagonisten, moralische Integrität – ein aufregendes Kontrastprogramm zur Wirklichkeit.

Kein Wunder, dass einige in den synthetischen Fantasiewelten hängen bleiben, mit dramatischen Folgen für ihr Umfeld. Traurige Bekanntheit erlangte die Geschichte eines koreanisches Ehepaars. Dieses liess sein vier Monate altes Baby verhungern, weil es sich lieber in World of Warcraft mit Elfen und Orcs prügelte. Das Kind ging schlicht vergessen. Eine ähnliche Geschichte spielte sich in Bayern ab, wo ein schwer vernachlässigter 4-jähriger Bub in die Intensivstation eingeliefert werden musste. Das Kind war halb verhungert. Als bekannt wurde, dass seine Eltern ihre Freizeit mit Computerspielen verbrachten, mutmasste ein Reporter der Nürnberger Zeitung: «Hat das Pärchen im PC-Wahn gar nicht mitbekommen, dass ihr Sohn am Verhungern war?». Das Traurige daran: Möglich wär‘s.

Aufwachen

Werden solche Geschichten publik, wird in der öffentlichen Diskussion beinahe reflexartig auf das Medium eingeprügelt durch welches uns die Traumwelt vermittelt wird. Plötzlich wimmelt es von besorgten Medienpädagogen, die nach solchen Gräueltaten den Computer – früher die Plattensammlung – der Täter durchforsten. Ist die Ursache in Form eines «Killerspiels», eines Mondo-Films oder einer Alice-Cooper-Platte gefunden, beginnt die Verbotshysterie. Im O-Ton hört sich das an wie Helen Lovejoys «Oh, won›t somebody please think of the children!». Ein Zeichen für den Verlust der kulturellen Autorität, welchen unsere Entscheidungsträger seit Jahrzehnten erleben. In Ihrer Hilflosigkeit zensieren und verbieten sie, was sie nicht verstehen.

Zu Unrecht, denn das eigentliche Problem ist nicht das Medium, auch nicht dessen Inhalt, sondern was in uns drin damit passiert. Ein Traum allein hat keine Wirkung, erst die erlebte Wirklichkeit, mit welcher wir ihn kontrastieren und interpretieren, erzeugt sie. Wenn wir unser tägliches Dasein an den industriell gefertigten Traumwelten messen, treten die Mängel unserer Welt wie Pickel an die Oberfläche. Kein Wunder, denn die Traumfabriken dieser Welt sind bereits so gut, dass unsere Realität den Vergleich verlieren muss. Das ist ihr Metier – und sie werden immer besser darin. Das Geschäft mit dem Eskapismus blüht: Einer Studie von PricewaterhouseCoopers zufolge wird die weltweite Medien- und Unterhaltungsindustrie 2011 mit einem durchschnittlichen Wachstum von 6.4 Prozent einen Umsatz von 2 Billionen Dollar erwirtschaften. Der Videospiele-Sektor wird gemäss PwC am stärksten wachsen. Und mit Sicherheit wird auch die Zahl der Fälle wie der des koreanischen Pärchens zunehmen.

Realität

Wie schaffen wir es, als Gesellschaft mit dieser Entwicklung umzugehen? Eines ist klar: Wir werden vor der Wahl stehen. Nehmen wir die rote oder die blaue Pille? Ich glaube, es muss die rote sein. Die Aufgabe lautet, eine Wirklichkeit zu schaffen, die den Vergleich mit der Traumwelt nicht verliert, in der jeder gerne zu Hause ist. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft schlechthin. Damit wir Träume als Inspiration verstehen, nicht als Fluchtmöglichkeit. Schliesslich war es ein Traum, den Columbus auf den Atlantik hinaustrieb. Es war ein Traum zu fliegen oder zum Mond zu reisen. Es war ein Traum, den Martin L. King trieb und den Barack Obama heute verkörpert. Das zu erreichen, überlasse ich unserer zukünftigen Elite. Ich hoffe, sie hat einen stärkeren Realitätssinn als die heutige. Sonst treffen wir uns alle auf J.-L. Picards Holodeck wieder, als millionenschwere, cocktailschlürfende Popstars mit Sixpack und Jessica Alba an unserer Seite – während uns die reale Welt um die Ohren fliegt. Fair enough.


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