Die Schweiz blickt auf eine lange und leidvolle Drogengeschichte zurück. Die Substanzen wechselten, die gesellschaftlichen Auswirkungen und Schicksale gleichen sich.
Die Geschichte der Rauschmittel reicht weit zurück. Vieles, was heute in Vergessenheit geraten oder aber selbstverständlich ist, führte früher zu Diskussionen. Zu den kontroversesten und schockierendsten Entwicklungen in dieser Hinsicht zählen die Verbreitung und das anschliessende Verbot des Absinths sowie die offenen Drogenszenen in Bern und Zürich Ende der Neunzigerjahre.
Absinthverbot
Die Spirituose Absinth verdankt ihren Namen dem Wermut (Artemisia absinthium), welcher zusammen mit Anis und Fenchel ihren hauptsächlichen Inhaltsstoff bildet. Bereits in der Antike wusste man um die heilbringenden Eigenschaften des Wermuts. Während der Besetzung Algeriens ab 1830 durch Frankreich wurde Absinth als Heilmittel den Soldaten verabreicht, wodurch die Spirituose bekannt und auch als Genussmittel beliebt wurde. Bereits ab 1860 kannte man in Paris die «heure verte», welche auf die oft grünliche Färbung des Absinths und seinen Übernamen «grüne Fee» anspielt. Durch dieses französische Pendant zur britischen «Tea Time» erlangte der Absinth zunächst bei Künstlern grosse Beliebtheit, später wurde die grüne Fee zur Volksdroge in West- und Zentraleuropa.
Mit dem steigenden Konsum des Absinths wuchsen auch die Probleme. Für die oft gravierenden Folgen des Absinthkonsums – Schwindel, Halluzinationen, Depressionen, Krämpfe und Blindheit – wurde insbesondere das Neurotoxin Thujon verantwortlich gemacht, welches ein Bestandteil des Wermuts ist. Zwar ist Thujon heute als Nervengift bekannt und kann durchaus als drogenähnliche Substanz bezeichnet werden, womit die Vermutung einer gesundheitsschädigenden Wirkung dieses Stoffes nicht von der Hand zu weisen ist. Historische Untersuchungen haben indes gezeigt, dass die fatalen Folgen des Absinthkonsums vielmehr vom hohen Alkoholgehalt – 45 bis teilweise 85 Volumenprozente – und der zudem oft schlechten Qualität des Alkohols herrührten.
Die beschriebenen schwerwiegenden Folgen des Absinthkonsums führten zu wachsendem Widerstand gegen die Verbreitung des Absinths. Als 1905 in Lausanne ein betrunkener Weinbergarbeiter während eines Wutanfalls seine schwangere Frau und seine zwei kleinen Töchter ermordete, wurde der Täter als «Absinthmörder» bekannt und die Tat europaweit in den Medien thematisiert. Dieses Verbrechen führte dazu, dass sich die Stimmung in vielen Ländern endgültig gegen den Absinth richtete. Schliesslich wurde in der Schweiz 1908 eine Volksinitiative mit dem Ziel eines Absinth-Verbots angenommen. Das Verbot trat 1910 in Kraft, auch andere europäische Länder folgten diesem Beispiel.Im neuen Jahrtausend hat der Absinth eine Rehabilitation erfahren. Seit 2005 ist er auch in der Schweiz wieder erlaubt. Grund für diese Rehabilitation war nicht zuletzt die Erkenntnis, dass nicht die Inhaltsstoffe, sondern die schlechte Alkoholqualität und der masslose Konsum für die verheerenden Konsequenzen des Absinth-Genusses verantwortlich gewesen waren.
Offene Drogenszene und Zürich
Ein besonders düsteres Kapitel des Drogenkonsums ereignete sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren in Bern und Zürich. Im Herzen beider Städte hatte sich eine offene, völlig unkontrollierte Drogenszene entwickelt. In Bern war sie von 1985 bis Ende 1990 auf der Bundesterrasse und der kleinen Schanze direkt beim Bundeshaus zu finden, dann bis 1992 im Kocherpark. In Zürich war ihr Schauplatz von 1986 bis 1992 der Platzspitz in unmittelbarer Nähe zu Hauptbahnhof und schweizerischem Landesmuseum. Als «Needle Park» erlangte dieser Park weltweit traurige Bekanntheit. Bei seiner Sanierung musste die oberste Erdschicht komplett abgetragen werden, da sie völlig mit Spritzen und Scherben durchsetzt war. Nach seiner Schliessung am 4. Februar 1992 verlagerte sich die Szene an den Bahnhof Letten, bis auch dieses Areal 1995 geschlossen wurde.
Die offenen Drogenszenen waren geprägt durch eine ausgesprochene Hoffnungslosigkeit, in welcher Menschen sich und ihre Würde völlig aufgaben, weil sie alles in ihrem Leben dem Konsum ihrer Droge unterordneten. Völlig offen wurden Drogen gehandelt und konsumiert. Menschen prostituierten sich oder bestahlen andere, teilweise die eigene Familie, um ihren Konsum zu finanzieren. Überlebenskämpfe spielten sich ab in diesem hochentwickelten Land, zynischerweise vergleichbar mit dem Überlebenskampf der Ärmsten dieser Welt gegen den Hunger. Viele Abhängige starben an Krankheiten wie AIDS, an Überdosen und Gewalt, auch an seelischer.
Die hygienischen Zustände waren ebenfalls gravierend. Spritzen wurden unter den Süchtigen ausgetauscht, teilweise wurde Pfützenwasser zum Reinigen der Spritzen und zum Konsum benutzt. Hinzu kam, dass die konsumierten Drogen oft von sehr schlechter Qualität waren, beispielsweise gestreckt mit Rattengift.
Ein grosses Problem war, dass die Abhängigen so viel Zeit und Energie in die Beschaffung von Geld für ihren Konsum investierten, dass sie kaum noch Ressourcen hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der natürliche Lebenserhaltungstrieb der Menschen wurde durch die Abhängigkeit zu einem Beschaffungstrieb, bei welchem nur der nächste Schuss zählte. Dadurch ernährten sich die Abhängigen unzureichend, hatten oft keine feste Unterkunft mehr, und auch das soziale Netz litt unter dem exzessiven Konsum. Hilfe statt Repression.Die Behörden schauten dem Treiben ratlos zu, die Öffentlichkeit ange-ekelt. Schliesslich erkannte man, dass es so nicht weitergehen konnte. Zunächst setzte man auf Repression. Doch die Behörden begriffen bald, dass der Einsatz der Polizei die Probleme nicht lösen konnte, sondern lediglich zu einer Verlagerung des Problems führte (auch im sprichwörtlichen, räumlichen Sinn). Daher wurde vermehrt auf die so genannte Schadensminderung gesetzt. Einerseits wurden bereits ab 1986 Fixerstuben eingerichtet, in welchen die Drogenabhängigen in Ruhe ihre Drogen konsumieren konnten und kostenlos saubere Spritzen und weitere Utensilien erhielten. Ander-erseits wurde ab 1995 ein kontrolliertes Drogenabgabeprogramm (KODA) ins Leben gerufen. Mittlerweile versorgen die Schweizer KODA-Stellen rund 1500 Menschen mit Heroin und Methadon. Die Kosten werden von der Krankenkasse übernommen. Zwar schaffen es nur etwa fünf Prozent der KODA-Patienten, langfristig auf eigenen Beinen zu stehen und dem Konsum der Droge völlig zu entsagen. Jedoch müssen sich die Abhängigen ihre Drogen nicht mehr selber beschaffen und können sie überdies in einwandfreier Qualität und unter guten hygienischen Bedingungen konsumieren. Dadurch werden sie nicht mehr in die Illegalität gedrängt und können oft ein einigermassen geregeltes Leben mit einer eigenen Unterkunft führen, teilweise sogar einer regelmässigen Arbeit nachgehen.
Was man auch von diesen Programmen halten mag: Fest steht, dass sie den Abhängigen wieder ein würdiges Leben ermöglichen und überdies dafür gesorgt haben, dass die offenen Drogenszenen aus den Schweizer Städten verschwunden sind.