Integration war gestern. Inklusion heisst das Wort der Stunde, wenn es um das grenzenlose Zusammenleben geht. Was versteht man darunter und wie wird Inklusion umgesetzt?
Wenn Politiker dieses Wort in den Mund nehmen, schwingt immer ein bisschen die Hoffnung auf eine bessere Welt mit. Inklusion – das klingt nach Gleichheit, Gemeinschaft und Grenzenlosigkeit. Oft wird dabei vergessen, eine wirklich präzise Definition davon zu geben, zu erklären, was denn wirklich damit gemeint ist. Vielen ist beispielsweise der Unterschied zur Integration wohl nicht wirklich klar. Allgemein gesprochen geht es bei Inklusion darum, die gesellschaftliche Heterogenität als Chance wahrzunehmen, Einzelne, aber nicht nach Kriterien wie ihrer Leistungsfähigkeit, ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrer Nationalität oder ihrer Sexualität in Gruppen einzuteilen und dadurch voneinander abzugrenzen. Alle sollen vom Austausch untereinander profitieren, unterschiedliche Begabungen werden nicht mehr als schwer vereinbar, sondern als bereichernd wahrgenommen. Damit geht das Konzept der Inklusion einen Schritt weiter als der Ansatz der Integration, bei dem das Ziel zwar auch ist, Ausgrenzungen zu überwinden, zunächst aber schon die Unterscheidung anhand der oben genannten Kriterien gemacht wird. Das heisst konkret: es gibt die «Normalen» und die «Anderen», dann wird versucht, die «Anderen» trotzdem miteinzubeziehen und eine generelle Akzeptanz ihnen gegenüber herzustellen. Nach der Logik der Inklusion ist das gar nicht nötig, denn danach ist jeder – und deshalb niemand – «Anders».
Bedeutsam ist der Begriff vor allem in der Debatte um den richtigen Umgang mit Behinderten. Dieser hat in den Neunzigerjahren eine regelrechte Inflation erfahren. Es setzte sich die Meinung durch, dass vor allem im schulischen Bereich ein dauerhaft getrennter Unterricht nicht erstrebenswert sei. Eine rechtliche Grundlage wurde aber erst 2006 geschaffen, als die Vereinten Nationen die «Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen» verabschiedeten. Darin werden zahlreiche Bestimmungen gemacht, die das Leben behinderter Menschen betreffen und letztlich zur Aufhebung von Diskriminierung und Benachteiligung führen sollen. Die Rechte Behinderter waren zwar zuvor schon oft betont worden, entscheidend ist aber, dass sie durch die spezifischen Regelungen einen konkreteren Charakter erhalten haben. Ein weiterer wichtiger Pfeiler der Konvention ist die Forderung nach Barrierefreiheit – die uneingeschränkte Teilnahme am öffentlichen Leben muss demnach gewährleistet werden; Inklusion eben. 2008 trat der Rechtsakt schliesslich in Kraft, unterzeichnet wurde er seitdem von 154 Staaten, 124 von ihnen haben ihn ratifiziert, sich also verpflichtet, die Bestimmungen in nationales Recht umzuwandeln. Die Schweiz hat beides noch nicht getan. Das mag ein Grund sein, warum über Inklusion hierzulande noch relativ wenig gesprochen wird. Während in anderen Ländern wie Deutschland die Bestimmungen mittlerweile umgesetzt werden und die Bevölkerung mit aufwendigen Kampagnen und Werbespots für das Thema sensibilisiert wird, ist die mediale Aufmerksamkeit hier (noch) gering.
Doppelstrategie der Stadt St. Gallen
Das heisst aber nicht, dass Inklusion nicht trotzdem stattfände: Auch in der Schweiz werden verstärkt Bildungsprojekte auf den Weg gebracht, die einen gemeinsamen Unterricht für alle ermöglichen sollen. Die Stadt St. Gallen fährt da eine Doppelstrategie: in dem in diesem Jahr vorgestellten Sonderpädagogik-Konzept wird sowohl auf Formen des gemeinsamen als auch des getrennten Lernens eingegangen. Es soll also auch in Zukunft Sonderschulen geben, daneben werden aber in Regelschulen Kinder mit und ohne Behinderungen zusammen unterrichtet. Segregation und Inklusion – das scheint nicht wirklich zusammenzupassen. Einige Juristen vertreten sogar die Auffassung, dass «exklusiver» Unterricht der UN-Konvention zufolge eine Verletzung der Rechte Behinderter darstellt und damit illegal würde. Denn darin steht ausdrücklich, dass die Vertragsstaaten sicherstellen müssen, dass «Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen […] Zugang zu einem inklusiven […] Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben». Nicht immer wird dieses Recht damit begründet, dass dadurch die Gleichberechtigung vorangebracht wird oder dass das inklusive Lernen ein Gewinn für alle sei. Teilweise wird auch schlicht der wirtschaftliche Nutzen hervorgehoen. Laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation haben zehn Prozent der Weltbevölkerung eine Behinderung, Tendenz steigend. Damit stellen Menschen mit Behinderung eine grosse Minderheit auf unserem Planeten dar. Gleichzeitig ist für sie die Gefahr, arbeitslos zu werden, doppelt so hoch wie für Menschen ohne Behinderung. Deshalb wird argumentiert, dass wir es uns in Zukunft als Gesellschaft einfach nicht mehr leisten werden können, so viele potentielle Arbeitskräfte nicht zu beschäftigen. Inklusion, beginnend in der Schule, wird als beste Möglichkeit angesehen, später auch eine erfolgreiche Integration auf dem Arbeitsmarkt zu gewährleisten.
Doch nicht alle beurteilen die Perspektiven inklusiven Unterrichts derart positiv. Eine häufig geäusserte Befürchtung lautet, dass die Gleichstellung auf Kosten der Kinder ohne Behinderung geht, die in inklusiven Klassen weniger Aufmerksamkeit bekämen und auf deren Bedürfnisse kaum noch eingegangen würde. Während sich diese Vermutung in den letzten Jahren nicht bestätigte – so erzielten Schüler inklusiver Klassen in vergleichenden Tests sogar tendenziell bessere Ergebnisse –, zeigte sich in der Praxis ein anderes Problem: Kinder mit Behinderungen werden oft nicht in die Spiele miteinbezogen, generell finden sie langsamer Anschluss unter Gleichaltrigen. Auch wenn in inklusiven Gruppen theoretisch nicht mehr zwischen «normal» und «anders» differenziert wird – die Kinder scheinen diese Unterscheidung dennoch vorzunehmen.
Eine aktuelle Kampagne der deutschen Sozialorganisation «Aktion Mensch» zeigt eindrücklich, dass Inklusion mehr sein muss als die formelle Gleichstellung aller. Auf einem der Bilder sind zwei Jugendliche zu sehen, ein Junge und ein Mädchen. Die Szene erinnerte an eine romantische Highschool-Komödie, sässe der Junge nicht im Rollstuhl. Darüber steht: «Inklusion heisst Schmetterlinge im Bauch». Auch wenn das vielleicht ein bisschen einfach klingt, genau darum geht es wohl. Es reicht nicht, respekt- und verständnisvoll zu sein. Erst wenn die Behinderung nebensächlich wird, dann gelingt Inklusion.