«Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum …» schallt es aus dem Radiowecker. Er fährt aus dem Bett hoch, schweissgebadet schaut er auf die Uhr. Die roten Zeiger leuchten wie ein scharlachrotes Mahl – genau 12.00 Uhr mittags. SCHEISSE. Schon Stunden zuvor wollte er sich in das Einkaufsgetümmel werfen, schon Stunden zuvor seinen Heiligabend retten. Sofort springt er aus dem Bett, seine Fussgelenke knacken gefährlich, ihm wird kurz schwarz vor Augen. Doch das ignoriert er. Auf solche Befindlichkeiten kann er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er flucht, als ihn das kalte Wasser in der Dusche trifft. Es ist der 24. Dezember. Heute Abend ist die Bescherung. Alle reisen sie an, seine Eltern, seine Freundin, alle nahen, entfernten und angeheirateten Verwandten. Und wie jedes Jahr, wie jede Weihnachten, hat er noch kein einziges Geschenk besorgt, geschweige denn irgendeine Idee. Sein Pulsschlag ist bereits erhöht, jetzt nicht die Fassung verlieren, das klappt schon. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde hat das «Es ist schon fast Weihnachten»-Panik-Einkaufsgetümmel zwar schon fast seinen Höhepunkt erreicht, aber daran führt nun leider kein Weg mehr vorbei. Einkaufen war noch nie seins, aber Weihnachtseinkäufe sind der blanke Horror: Ein jeder kämpft wie ein Gladiator im alten Rom um sein eigenes Überleben. Da ändert auch die liebliche Weihnachtsbeleuchtung wenig; einzig die Gesichter der Passanten spiegeln die Stimmung in dieser Farce perfekt wieder: abgewetzte, gestresste, überreizte Fratzen – überall.
Trainerhosen und Hoodie, das perfekte Outfit für den Kampfeinsatz, Deckname Nikolaus. Ein kindisches Grinsen ziert sein Gesicht, als er an der bevölkerten Bushaltestelle eintrifft. Das kann ja heiter werden, denkt er sich. Noch. Fünf Minuten zu spät schlittert der Bus an und spritzt ihm kalten, matschigen Schnee ins Gesicht. Während der Matsch langsam schmilzt und seinen Kragen hinabrinnt, findet er einen Sitzplatz. Ihm ist kalt. Sofort beginnt die alte Frau neben ihm zu klagen: «So ein Stress heute, ich muss noch Kekse backen und die Geschenke auch noch einpacken, ohje. Die Stromrechnung darf ich auch nicht vergessen zu bezahlen. Und Weihnachten überhaupt, diese undankbaren Bratzen kommen doch nur, um Geld und Geschenke einzusammeln, Ausgeburten der Hölle, wahre Blutsauger sind das, und sonst, sonst bin ich denen egal, wissen Sie. Das letzte Mal, haben sie …». Ja ja, einfach lächeln, nicken und «Halt die Fresse» denken. Kein Wunder, dass die dich nie besuchen, wenn du sie Wildfremden als «das Schlimmste, was mir je passieren konnte» beschreibst, denkt er sich und lächelt eisern weiter, während seine Hand sich zur Faust ballt. «Stille Nacht, heilige Nacht» klingt schnarrend aus dem Radio des Busfahrers.
Ein Meer aus Untoten
An der nächsten Station dann die Erlösung, endlich raus. Raus aus der trockenen, überheizten Luft, endlich atmen – von wegen. Die Luft ist zwar klarer, doch die Enge bleibt, er wird einfach in dem Menschenstrom mitgerissen. Wie hirnlose Zombies ziehen sie durch die Strasse, willenlos, ferngesteuert, nicht auf der Suche nach menschlichem Fleisch, sondern auf der Jagd nach dem perfekten Geschenk; und dabei sind sie genauso rücksichtslos, genauso bleich wie echte Untote. Und wie die Ratten dem Klang der Flöte, folgen sie der Kakophonie aus zu laut abgespielten Weihnachtsliedern, die aus den Geschäften dringen «Last christmas … ist ein Ross entsprungen … rieselt … du selige». Ein unglaublicher Lärm, die perfekte musikalische Untermalung für diesen Ausflug in die Hölle, ärgert er sich. Plötzlich wird er in einen Laden gedrückt, «Last christmas, I gave you my heart …» beglückt die Kaufwilligen. Er sieht sich um. Eine Horde von Teeniemädchen, halb so gross wie er selbst, hat ihn in das Glitzerfunkelwunderparadies von Claire’s gedrängt. Schon ist die Horde einen Gang weiter. Sie kaufen sich gegenseitig diese coolen Ohrringe in Neonfarben, greifen nach einem Schminkset mit Farben, von denen selbst Picasso in seinen dunkelsten Tagen die Finger gelassen hätte. Gleich neben ihm zeigt ein kleines Mädchen ihrer Freundin ihre neuste Duftentdeckung. Dabei spritzt sie ihm eine volle Ladung des süsslich-süffig riechenden Gebräus in die Augen und die Nase. Er muss husten, seine Augen tränen. Sie entschuldigt sich, pflichtbewusst, kichert dabei aber ununterbrochen. Die andere Freundin sagt halblaut: «Pass halt auf, wo du hintrittst». Sein Puls beginnt zu rasen, eine Ader zeichnet sich auf seiner Stirn ab. Er muss hier raus – sofort. Er verlässt das Geschäft, dreht sich um, springt umher, will sich irgendwie Platz verschaffen, irgendwo atmen. Doch den Platz findet er nicht; überall sind Menschen. Wütend tritt er nach einer vorbeifliegenden Taube, merkt zu spät, dass sie dieses Mal nicht ausweicht. Seine schweren Winterschuhe treffen sie, ihr Kopf verdreht sich, sie fliegt im hohen Bogen davon und landet leblos in einem Kinderwagen. Sofort hat er Platz. Die Menschen schauen ihn angewidert an. Er atmet durch. Das Kind schreit, die Mutter schreit. Sein Puls rast ihm irgendwie davon. Eine Ader tritt an seinem Hals hervor. Pulsiert. Ein Strassenmusikant singt «Alle Jahre wieder …». Ein murmelndes Meer umgibt ihn, kommt immer näher. Er drückt sich durch die schubsende Menschenmenge davon, weg vom Tatort.
Irgendwo findet er eine freie Bank und versucht zu verschnaufen und sich die Taubenfedern vom Schuh zu kratzen. Dabei fällt ihm wieder ein, was er letztes Jahr so alles unter dem Baum vorfinden durfte, er wird wütend. Warum den Leuten eigentlich überhaupt was schenken, wenn sie sich selber ja offensichtlich keine Gedanken darüber machen, was sie da in Goldpapier einwickeln. Ein glorreiches Beispiel sind die Socken, die er letztes Jahr von seiner Tante gekriegt hat. Nicht nur waren sie zu klein, sondern auch bunt gepunktet, ein Paar, worum sich jeder Mittzwanziger prügeln würde, um es stolz besitzen und tragen zu können. Das passende Schuhwerk lieferte der Mann seiner Tante gleich mit – Trekkingsandalen. Aber hey, das kann schon mal passieren. Wenn man sich ein Paar Sportschuhe wünscht, freut man sich natürlich auch über Heilandsandalen, mit denen man sich unter dem Weihnachtsbaum tatsächlich etwas wie Jesus selbst fühlte. In diesem Augenblick fasst er einen Entschluss: Dieses Jahr verschenke ich nur hässliche Sachen, extra hässliche an die beiden. Nur seine Freundin bekommt was Schönes. Die liebt er ja. Vor Vorfreude reibt er sich die Hände. Am besten Badezusätze, Bratpfannen oder Kochbücher. Alles, was als Beleidigung missverstanden werden kann. Er denkt an ein Parfüm und lacht, so ein richtig ekliger Geruch – apropos, ein richtig ekliger Geruch steigt ihm in die Nase, überdeckt sogar die Ladung Eau de Toilette. Irgendwie riecht es nach faulen Eiern, nach gammelndem Fleisch und ein bisschen nach Lebkuchen. Er schaut sich um. Sieht nichts, folgt seiner Nase. Trotzdem, keine Quelle. Egal, da ist nichts. Reine Einbildung. Doch als er aufsteht, erkennt er sofort, woher der Geruch kommt; und warum die Bank leer war. Irgendjemand hat die Weihnachtsleckereien nicht vertragen und sich voller Elan auf die Bank übergeben. Viel ist nicht mehr zu sehen. Das meiste hängt gerade an seiner Hose.
Endspurt
So gar nicht christliche Gedanken gehen ihm durch den Kopf als die Verkäuferin ein Badezusatzset einpackt – vor sich sieht er nur das entgleiste Gesicht seiner Tante, wie sie versuchen wird, sich über die Mangopackung zu freuen – Rache ist süss. Und so kämpft er sich Geschenk für Geschenk, Geschäft für Geschäft durch den Trubel bis am Schluss nur noch eines fehlt – das Eine, das für seine Freundin. «Wenn du mir zuhören würdest, wüsstest du, was ich mir wünsche!», hat sie spitz als Antwort gegeben, auf die Frage, was sie sich denn wünsche. Er kann sich schon denken, was sie dann unterm Baum für eine Schnute ziehen würde, wenn sie nichts kriegte. Bepackt mit 100 verschiedenen Tüten und verschwitzt vom ständigen Temperaturwechsel zwischen Arktis draussen und Wüste Gobi in den Geschäften, hat er auch nach weiteren zwei Stunden im Weihnachtswahnsinn immer noch kein Geschenk für seine Liebste gefunden. Er tastet nach seinem Portemonnaie, um zu gucken, was das Budget überhaupt noch hergibt. Seine Hosentasche ist leer. Er springt umher, durchsucht jede Tüte, findet nichts. Das Portemonnaie ist nirgendwo. Plötzlich lässt er seinen Kopf hängen, er will nur noch ins Bett. «Ich mach einfach mit ihr Schluss», er macht sich auf den Weg, auf den Heimweg, traurig, als ihn plötzlich ein Kinderwagen rammt. Er stolpert, hält in der Luft inne und fliegt dann aber gleich mit voller Wucht in eine Pfütze, die Hälfte der Tüten reissen, die anderen sieht er erst gar nicht mehr. Er erkennt den Kinderwagen. Vorhin fand darin eine Taube ihre letzte Ruhestätte. Die Frau, die ihn lenkt, zeigt ihm den Mittelfinger, tritt noch einmal nach seinem Zeug und fährt davon.
Er bleibt liegen, niedergeschlagen, alles an seinem Körper ist nass; er geniesst die Kälte des Bodens, des Asphalts. Sekunden vergehen, Minuten, irgendwann spürt er, wie ihm jemand auf die Schulter klopft – seine Freundin steht etwas irritiert neben ihm. «Was machst du da am Boden?», sie zieht ihn hoch, und sucht seine Tüten zusammen. Fast muss er anfangen zu weinen, wie sie da vor ihm steht und seine Einkäufe schön geordnet vor ihm hinstellt. «Ich … ich … find einfach kein passendes Geschenk für dich, es tut mir leid.», bricht es aus ihm heraus. Sie lächelt: «Das ist schon in Ordnung, ich hab schliesslich dich und jetzt komm, du siehst aus, als bräuchtest du einen Glühwein!»