Der Sinn des Wahns

Wahn ist eine Krankheit, so die verbreitete Meinung. Dabei vergisst man schnell, wie viel Kreativität und Schaffenskraft daraus gewonnen werden kann. Ein Plädoyer für mehr Wahnsinn im Alltag.

Man sagt, jemand «leide» unter Wahnvorstellungen, doch ist das wirklich so? Es gibt eigentlich genug Indizien dafür, dass viele psychisch Kranke gar nicht geheilt werden wollen. In Deutschland werden beispielsweise jährlich bis zu 200’000 Männer und Frauen gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen. Das sind fast drei Mal so viele Menschen, wie St. Gallen Einwohner hat. Stellt man sich drei Städte vor, die ausschliesslich mit unfreiwilligen psychiatrischen Patienten bevölkert werden, so sind die ersten Assoziationen Chaos und vielleicht eine erhöhte Kriminalitätsrate. Die Wahrheit ist aber, dass man unter den Bewohnern dieser Städte auch überdurchschnittlich viel Potenzial für Kreativität vorfinden würde. Diesen Zusammenhang hat der ungarische Wissenschaftler Szabolcs Kéri vor einigen Jahren erkannt, als er an dem Gen Neuregulin 1 forschte, das schon länger dafür bekannt war, in einer bestimmten Variation Psychosen wie Schizophrenie zu begünstigen. Kéri nahm an, dass die Veränderung des Gens auch einen positiven Effekt haben musste, da sie andernfalls im Evolutionsprozess ausgesondert worden wäre. Er fand tatsächlich heraus, dass Testpersonen mit dem «Psychose-Gen» mit grösserer Wahrscheinlichkeit extrem kreativ waren. Schon viel früher gab es Spekulationen über den Zusammenhang von Genie und Wahnsinn; Kéris Erkenntnis zeigt eindeutig, dass beide Eigenschaften nicht durch Zufall so häufig aufeinandertreffen. Besonders unter den Künstlern, Schriftstellern und Musikern gab und gibt es viele, die nachgewiesenermassen unter Wahnvorstellungen litten, pardon, davon betroffen waren. Auch hier gibt es Grauzonen, besonders bei vor langer Zeit verstorbenen Personen ist es schwierig, rückblickend eine Diagnose zu stellen. Mozart hatte seinerzeit noch keinen Psychiater, überliefert ist aber zumindest, dass er oft extrem launisch war, nicht für längere Zeit stillhalten konnte und immer wieder verbal entgleiste. Manche attestieren ihm daher das Tourettesyndrom.

Die Reihe prominenter Künstler mit psychischen Problemen lässt sich von Edvard Munch über Robert Schumann bis hin zu Leo Tolstoi beliebig erweitern. Interessant ist vor allem, dass ihr Wahn auch immer unmittelbar mit ihrem Schaffen verknüpft ist. Das berühmteste Beispiel dafür ist vielleicht Vincent van Goghs Selbstportrait mit abgeschnittenem Ohr, in anderen Fällen wird sogar von kreativen Schaffensphasen, die aus den Wahnvorstellungen hervorgingen, gesprochen. Die konstruktive Seite der Paranoia erkannten auch die Surrealisten. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan spricht in diesem Zusammenhang von den «fruchtbaren Augenblicken des Wahns». Einer der bekanntesten Vertreter des Surrealismus, Salvador Dalí, entwickelte sogar eine eigene Kunstform, die sich auf die Methoden der Paranoia stützt. Faszinierend war für ihn vor allem, wie Obsessionen die Wahrnehmung verzerren und steuern, so dass die Wirklichkeit wie durch einen Schleier betrachtet wird, als Ganzes aber dennoch ein einheitliches Bild ergibt. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, könnte man sogar zum Schluss kommen, dass wir alle durch einen solchen Schleier sehen, Paranoia hin oder her. Vielleicht sind die meisten von ihnen lediglich ähnlich koloriert, wodurch kleinere Unterschiede in der Wahrnehmung nicht weiter auffallen. Man muss kein überzeugter Konstruktivist sein, um zumindest anzuerkennen, dass die Bewertung einer Situation stark von persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen abhängt. Gerade deswegen fällt die Suche nach einer «universellen Wahrheit» so schwer und ist es nahezu unmöglich, die Trennlinie zwischen «normal» und «wahnsinnig» eindeutig festzulegen. Laut Duden ist Wahn übrigens eine «falsche Vorstellung, die sich bei jemandem festgesetzt hat». Gemäss dieser Aussage wäre wohl jeder von uns in jeder Epoche ausser der jetzigen anhand einer Reihe von «falschen Vorstellungen» als wahnsinnig erklärt worden: Frauen gehören an die Universitäten und die Welt ist eine Kugel – das wäre einem mittelalterlichen Kleinbauern genauso abwegig vorgekommen wie uns eine Invasion Ausserirdischer. Bedeutet Wahn folglich Avantgarde und Fortschritt? Nicht zwangsläufig. Zumindest sollten wir aber aufhören, dem Wahn seinen Sinn abzuerkennen.


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