Ein Drahtseilakt an der kanadischen Pazifikküste

Zwischen Pazifik und dem Dickicht des kanadischen Waldes findet sich an der Westküste Vancouver Islands einer der anspruchsvollsten Wanderwege Nordamerikas. Geschicklichkeit, Ausdauer und gute Nerven sind hier gefragt, aber wer das Abenteuer wagt, wird mit einem einmaligen Erlebnis belohnt.

Der West Coast Trail – das ist eine Woche Wildnis und Wagnis. Mehrere Autostunden von Victoria, der Hauptstadt von British Columbia, entfernt windet sich hier einer der schwierigsten Wanderwege Nordamerikas am «Graveyard of the Pacific» entlang. Der Küstenstreifen verdiente sich seinen traurigen Beinamen im 19. Jahrhundert, als Hunderte von Schiffen hier ihr nasses Grab fanden. Eine tragische Geschichte, welcher der West Coast Trail seine Entstehung verdankt.

Lebensretter mal anders

Jetzt muss man sich fragen, wie ein Wanderweg Schiffbrüchigen helfen sollte. Nun, den armen Gestalten, die den Untergang selbst gar nicht erst überlebten, überhaupt nichts. Aber die Überlebenschancen von denjenigen, die es glücklich bis auf festen Boden schafften, stiegen in der Tat drastisch. Vor der Eröffnung des West Coast Trail war eine Rettung eigentlich Illusion. Einmal an Land angekommen, erwarteten sie nämlich keinesfalls warme Rettungsdecken, tränenselige Angehörige und die Möglichkeit, die Geschichte eines haarsträubenden Überlebenskampfes zu Geld zu machen. Stattdessen wurden sie von Meilen an undurchdringlichem, von Bären und Pumas bewohntem Wald erwartet. Kaum jemand überlebte. Der West Coast Trail sollte das ändern. Entlang der bereits bestehenden Telegrafenmasten legte man einen Pfad frei. Pumas und Bären gab es immer noch, aber jetzt warteten alle paar Kilometer kleine Camps mit Notvorräten und Werkzeugen auf die Schiffbrüchigen. Mit der Erfindung moderner Navigationsgeräte wurde das Drama des Graveyard des Pazifik zu den Akten gelegt. Der West Coast Trail aber avancierte zu einem der beliebtesten Ziele von Naturliebhabern, Adrenalinjunkies und passionierten Wanderern Kanadas. Er ist jedoch keineswegs ein Spaziergang. Zwar nur 75 Kilometer lang, ist er in keinster Weise mit den Wanderwegen in den Alpen zu vergleichen, auf die sich Otto Normalverbraucher in unseren Breiten am Wochenende verirren.

Nichts für schwache Nerven

Das gefährlichste Tier, das einem hier so begegnen kann, ist wahrscheinlich ein wildgewordenes Murmeltier. Auf dem West Coast Trail steht man hinter der nächsten Kurve auch schon mal einem Bären oder einem Puma gegenüber. Nichts für schwache Nerven. Benutzerfreundliche Treppen und Brücken gibt es auch nicht. Stattdessen erwarten gischt- und regenglitschige Leitern sowie Self-Service-Seilbahnen den Wanderer. Im Klartext heisst das, man schwankt eine zehn oder zwanzig Meter hohe Leiter hinauf, nur um dann sich und seinen überdimensionalen, bleischweren Rucksack in ein viel zu kleines «Metallkörbchen» zu befördern und sich selbst an einem Stahlseil entlang zur anderen Seite einer Schlucht zu ziehen, über deren Tiefe man besser nicht nachdenken sollte, buchstäblich ein Drahtseilakt. Für den gesamten Weg braucht man ungefähr eine Woche – wenn man Pech hat, aber auch mal um einiges länger. An mehreren Stellen müssen Wasserzuläufe an der Küste durchquert werden. Im Normalfall bedeutet das nur ein bisschen nasse Füsse. Wenn Petrus sich aber entscheidet, unvernünftige Mengen an Wasser vom Himmel zu schütten – und Vancouver Island ist bei ihm sehr beliebt, bleibt man auch schon mal zwei bis drei Tage an so einer Wasserüberquerung hängen, weil der kleine Fluss plötzlich zum reissenden Strom geworden ist.

Aufgeben ist auch keine Option. Jedenfalls sollte man sich den Ort sorgfältig aussuchen. Eine halbwegs zuverlässige Rettung ist eigentlich nur an zwei sehr kurzen Küstenabschnitten möglich. Also lieber nicht von einem Bären angefressen werden oder von der Leiter fallen. Für die kulinarische Versorgung gilt grundsätzlich die Direktive «selbst mitnehmen». Das bedeutet, eine Woche von Platz sparender Astronautennahrung zu leben, deren Erfinder eindeutig noch nie von der Existenz von Geschmacksnerven gehört haben.

West-Coast-Trail-Wandern bedeutet also eine Woche schwindelnde Höhen, nasse Füsse, schlechtes Essen und ein ganzes Arsenal an Tieren, die einen schon mal zum Abendessen verspeisen könnten. Trotzdem beschreiten jedes Jahr 6’000 Menschen den West Coast Trail.

«Memories for the heart»

Es ist schwer, den Charme und die Unvergesslichkeit dieser Woche in der Wildnis in Worte zu fassen. Selbst Fotos helfen nicht viel. Am ersten Tag knipst man noch eifrig hinter jeder Biegung Fotos, aber spätestens wenn man bei im Sonnenaufgang spielenden Seerobbenbabys am Strand aufwacht, erkennt man, dass manche Erinnerungen niemals in einem Foto festgehalten werden können. «Memories for the heart» nennen die Kanadier das. Und davon gibt es viele auf dem West Coast Trail – Erinnerungen, die man im Herzen mit sich trägt, anstatt sie schön säuberlich in ein Fotoalbum zu kleben.

Das Adrenalin-High, wenn man an einem dünnen Drahtseil über einer Schlucht baumelt, unter einem die tosenden Wellen des Pazifiks, die sich an den Felswänden brechen, die fast bizarre Schönheit der Überbleibsel eines Schiffwracks, noch halb im Morgennebel verborgen, oder die Euphorie, einen weiteren Tag in einer völlig anderen Welt überlebt zu haben: All das ist fantastisch und jede Mühe wert.


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