Studenten spüren mit als Erste die Konsequenzen der Masseneinwanderungsinitiative: Das Erasmusprogramm ist gestrichen und das Förderprojekt Horizon 2020 ausgesetzt. Der Bund versprach bereits Hilfe. prisma sprach inzwischen mit Rektor Thomas Bieger über die weiteren Auswirkungen der Initiative auf die Studierenden.
Herr Bieger, viele Studenten beklagen sich über die Verschwiegenheit der Universität bezüglich der Masseneinwanderungsinitiative und ihrer Folgen. Lange Zeit wurden keine Pressemitteilung oder Statements veröffentlicht. Warum das Stillschweigen Ihrerseits?Nach der Abstimmung herrschte einige Tage Unklarheit darüber, wie der Bund oder die EU reagieren würden. Es hat für uns keinen Sinn gemacht, diese Unsicherheit durch Vermutungen noch weiter zu fördern. Unser Ziel ist und war es immer, zeitgerecht und sachgerecht mit gesicherten Daten die Betroffenen direkt zu informieren.
Die Studierenden, die im Herbst einen Austausch im Erasmusprogramm beginnen, wurden in der zweiten Woche nach der Abstimmung über den aktuellen Stand informiert. Ebenso erhielten die Forschenden bezüglich Horizon 2020 und unsere Partner-Universitäten ein direktes Anschreiben. Seit dem 21. Februar 2014 werden auf dem Intranet und Studentweb die neusten Informationen laufend aktualisiert.
Auch zum heutigen Zeitpunkt sind noch nicht alle Auswirkungen absehbar. Wir stehen diesbezüglich in engem Kontakt mit den Schweizer Behörden. Nach dem jüngsten Entscheid des Bundesrates gehen wir jedoch davon aus, dass die Studierenden im Rahmen der bestehenden bilateralen Abkommen und Netzwerke der HSG mit ihren Partnerschulen in Europa ihren Austausch antreten und mit Erasmus-Stipendien der Schweiz unterstützt werden können, so wie dies bis 2010 in der Drittstaaten-Variante praktiziert wurde.
Für den Fall, dass der Bund die Anschlussfinanzierung der Stipendien für die Studierenden im Austausch nicht kurzfristig sicherstellen kann, wird die Universität St. Gallen eine finanzielle Überbrückung für alle betroffenen Erasmus-Studierenden der HSG (Incoming und Outgoing) sicherstellen. Sie sehen: Die Universität St.Gallen hält an ihrer Vision 2020 einer international ausgerichteten Universität in Lehre und Forschung fest.
Die Konsequenzen der Initiative hängen wesentlich davon ab, wie der Bund gegenüber der EU reagiert und wie ein mögliches Kontingentsystem umgesetzt werden wird. Bezüglich der unmittelbar anstehenden Fragen zu Erasmus und Horizon 2020 ist jetzt entscheidend, inwieweit und wie rasch wieder Anschlussmassnahmen, ähnlich wie sie vor 2010 galten, installiert werden. Mittel- und längerfristig ist es für den offenen Forschungs- und Lehrplatz Schweiz entscheidend, wie dennoch ein Austausch und eine Zusammenarbeit von Dozierenden und Studierenden ausgestaltet werden kann.
Wie viele HSG-Forschende sind von der Sistierung des Forschungsprogramms Horizon 2020 betroffen?Internationale Forschungskooperationen sind auch für die Universität St. Gallen von grosser Bedeutung. Die HSG hat in 2012 von ihren rund 24 Millionen Franken aus den Bereichen Forschungskooperationen und Transferforschung sowie aus Forschungsprogrammen rund eine Million Franken aus EU-Projekten erhalten.
Wir sind also im Vergleich weniger stark betroffen als beispielsweise eine ETH oder EPFL.Das ist korrekt. Die direkte Wirkung ist begrenzt. Das liegt natürlich daran, dass wir für unsere Forschung keine aufwendigen, technischen Infrastrukturen benötigen. Wichtig ist aber die indirekte Wirkung! Durch die Abstimmung herrscht eine hohe Unsicherheit im In- und Ausland. Kollegen beklagen sich, dass europäische Forschungspartner vorsichtig sind und Kooperationen aus Angst, sie hätten mit einem Schweizer Partner Nachteile, nicht weiterverfolgen. Hier sollten aber nicht voreilige Schlüsse gezogen werden: Die EU akzeptiert weiterhin Schweizer Forschende und gemeinsame Forschung. Der einzige Unterschied ist, dass sie nicht mehr finanziert wird. Unsere Aufgabe ist daher, unsere Partner aktiv zu informieren.
Die EU finanziert nicht mehr, die Partnerschaften können aber weitergeführt werden. Wer ist aus Ihrer Sicht in der Finanzierungsverantwortung?Ganz klar der Bund. Bis 2010 hatten wir auch dieses System. Der Bund hat die Mitgliedschaften von Schweizer Universitäten an europäischen Forschungskonsortien bezahlt. Das Geld, das jetzt an die EU gegangen wäre und dann von ihr verteilt wurde, muss nun direkt verteilt werden.
Und das betrifft nun besonders hart die Erasmus-Studenten?Genau. Explizit wird dort die Wirkung für die Studierenden sichtbar. Die Studierenden haben den Austausch oftmals bereits geplant und sind nun natürlich verunsichert und fragen sich: Findet der Austausch überhaupt statt? Die HSG hat das Glück, dass bereits vor 2010 bilaterale Verträge mit Partneruniversitäten bestanden – diese gelten auch weiter. Unsere Studierenden können also davon ausgehen, dass sie weiter in den Austausch gehen können, weil ihre Studienplätze gesichert sind. Dies ist nicht bei allen Hochschulen der Fall.
Und was passiert mit den Stipendien?Die mit Erasmus verbundenen Stipendien an Gaststudierende in der Schweiz und Schweizer Studierende, die ins Ausland gehen, fallen jedoch weg. Jeder Student bekam monatlich rund 300 Franken. Gerade für Studierende aus dem Ausland ist dies wichtig, da die Schweiz als Studienort im Vergleich teuer ist. Für uns sind die Gaststudierenden wichtig, nicht zuletzt weil alle Austauschabkommen auf Reziprozität basieren. Es erstaunt mich, dass der Bund nicht rasch diese Stipendienbeträge nach der Sistierung der Abkommen durch die EU sicherstellte. Die HSG und einige andere Universitäten haben daher beschlossen, Sicherheit für die Studierenden zu schaffen, indem sie für den Fall, dass der Bund nicht zeitgerecht Massnahmen trifft, die Finanzierung der Stipendien sicherstellen. Gemäss dem Entscheid des Bundesrates vom 7. März 2014 sieht es ja nun aber danach aus, dass er die Teilnahme an Erasmus direkt finanzieren will.
Die Abstimmung hat eine starke Symbolwirkung. Unsere Universität steht für Internationalität, aber in einem Land, das sich gerade mehrheitlich gegen Internationalität ausgesprochen hat. Ist das vereinbar?Es besteht gewiss eine Symbolwirkung, aber es ist wichtig, die Lage sachlich zu beurteilen. Es wurde nicht grundsätzlich gegen eine internationale Ausrichtung der Schweiz abgestimmt, sondern darüber, wie viele Menschen zuwandern können. Das Schweizer Universitätssystem war schon vor dem Inkrafttreten der bilateralen Verträge mit der EU stark internationalisiert. Natürlich ist die EU wichtig, die Schweiz liegt ja mitten in Europa. Aber auch Nordamerika und die aufstrebenden neuen Forschungszentren in Asien und Lateinamerika sind für uns von grosser Bedeutung.
Gerade an der HSG begründet sich aber die hohe Internationalität in der Lehre durch die Zuwanderung. Spricht der Entscheid da nicht die deutliche Sprache: Ihr seid eigentlich gar nicht erwünscht!Die HSG war bezüglich ihrer Studierenden immer in einem steuerbaren Mass international ausgerichtet. Die 25-Prozent-Quote für Studierende aus dem Ausland wurde beispielsweise schon in den 60er-Jahren eingeführt. Die bilateralen Verträge sind seit 1999 in Kraft, der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU begann 2002. Die Zukunft hängt somit wesentlich von der Ausgestaltung eines möglichen Kontingentsystems ab.
Sehen Sie die Gefahr einer Rückwirkung des Abstimmungsergebnisses, das heisst Studierende, die jetzt ihren Bachelor beginnen und darum bangen müssen, ihren Masterabschluss an der HSG machen zu können?Nein, davon gehe ich nicht aus. Wer hier ist, der kann auch hier bleiben. Das wurde auch in der Abstimmung stets betont. Ich denke, dies gilt auch für Studierende. Auch von Universitätsseite wird man sich dafür einsetzen.
2 Comments
Markus Kronberger
Lieber Marcel,
wenn du selber die politischen Begebenheiten nicht nachvollziehen kannst, dann würde ich mich nicht zu Wort melden! Grund für den Ausschluss der Schweiz aus dem ErasmusPlus-Programm war die Weigerung der Schweiz Verhandlungen über ein notwendiges Freizügigkeitsabkommen Kroatiens mit der EU zu unterzeichnen (http://www.nzz.ch/aktuell/newsticker/eu-setzt-verhandlungen-mit-schweiz-aus-1.18245058). Was können die Prisma-Autoren dafür, dass Rektor Bieger wie der Mehrheit der Akademiker in der Schweiz die enormen negativen Folgen der MEI erkennt?
marcel wittwer
Sehr verehrte Prisma-Schaffende
Es erstaunt mich schon sehr, wie frappant das Prisma-Heftchen politisch gefärbt ist. Mit dem Interview zur MEI mit dem HSG Rektor war dann aber zuviel des Guten. Es ist mittlerweile weithin bekannt, dass nicht die MEI Grund für den Auschluss der Schweiz aus dem Erasmus-Programm ist, sondern eine dreiste Forderung der EU, welche die Schweiz noch mehr zur Kasse bitten wollte/will. Das ist längst nicht der einzige grobe Schnitzer. Also für die Zukunft: Ein bisschen mehr Differenziertheit und echten Journalismus und bitte nicht mehr solchen Pfusch.