Wir kennen St.Gallen; die Buslinien, jede einzelne Treppenstufe vom Meetingpoint bis zur Uni, den Bankomaten zwischen Elephant und Marktplatz. Wir wissen, wo man unter der Woche morgens um Drei noch einen Döner bekommt und wir identifizieren uns ab und zu fast ein bisschen mit dem Schützengarten und der Olmabratwurst. Selbst von Nebel und Regen lassen wir uns nur noch selten unterkriegen – wir wissen ja wie schön es sein kann, an einem lauen Sommerabend bei den Drei Weihern.
Wie aber erleben Studenten, die gut 9’500 km weit gereist sind, um 10 Tage ihres ‚Sommers’ in der Schweiz zu verbringen, die überschaubare Stadt in der Ostschweiz? Um meine ‚mittlerweile-beinahe-Heimat’ einmal aus einer etwas anderen Perspektive zu erleben, habe ich die studentische Initiative ACT und die Teilnehmenden aus Tokyo einen Tag lang in und um St.Gallen begleitet.
Bereits zum Frühstück gibt’s eine grosse Portion Swissness – erster Programmpunkt: Ein Besuch im SchoggiLand der Maestrani in Flawil. Die Schokolade und unser Guide auf der Tour durch die Fabrik sorgen für gute Laune und ich erfahre einen ersten (statistischen) Kulturunterschied: Schokoladenkonsum. Wir Schweizer sind mit 12 kg Weltmeister, die Japaner essen im Schnitt fast 10 mal weniger. Falls man der Statistik Glauben schenkt, sind unsere japanischen Freunde nach dem Besuch im Fabrikladen schokoladentechnisch wohl für einige Monate versorgt…
Zurück in St. Gallen der nächste Zwischenstopp: Olma Bratwurst, Bürli, selbstverständlich kein Senf, logischerweise am Marktplatz und natürlich regnet es. Authentischer geht’s kaum. Aber den Japanern scheint’s zu gefallen, insbesondere einige Alphornspieler sorgen für Begeisterung und unzählige Selfies. Diese sind sowieso hoch im Kurs: Selfie mit der Gallusstatue, Selfie vor der UBS, Selfie mit einem Trinkwasserbrunnen, einer grossen grünen Wiese, vor einem verschnörkelten Fensterladen, mit dem Busfahrer, selbst ein älterer Herr mit einem bemerkenswert buschigen weissen Bart muss hinhalten. Er findet’s zum Glück lustig.
Beim nachmittäglichen Foxtrail in der Altstadt merke ich langsam, dass es hier nicht in erster Linie um Company Visits, traditionelles Essen und Wandern in ‚Heidilandschaft’ geht. Wirklich interessant ist die kulturelle Konfrontation; zu sehen, wie unterschiedlich wir mit Situationen umgehen und die Erkenntnis, das Dinge, denen wir längst keine Beachtung mehr schenken, die Japaner in Aufregung versetzen können. Eine braune Nacktschnecke zum Beispiel. Auch sonst führt der eine oder andere Unterschied zu Missverständnissen und kollektiver Belustigung. Die Schweizer Teilnehmer, die gerade knapp drei Wochen in Japan verbracht haben, werden in aller Regel beim Wort genommen: „In Switzerland, if you get up before ten in the morning, you have to drink at least one beer before noon“ – „Oh, really?“ Sarkasmus und Ironie sind den japanischen Gästen offensichtlich eher fremd. Klar, dass man sich da ab und zu einen kleinen Scherz erlaubt. Doch falls sie es überhaupt merken, nehmen es die Japaner mit Humor. Es wird allgemein viel gelacht; über Tanzeinlagen, die eine oder andere Fehleinschätzung der eigenen Trinkfestigkeit und mehr oder weniger ästhetische Sprünge ins kalte Wasser der Drei Weiher – „It’s raining today, it’s cold – but that’s no problem!“
Ich glaube, diese Worte sollten wir uns zu Herzen nehmen, wenn wir das nächste Mal den Schirm zu Hause vergessen haben und die Temperatur trotz kalendarischem Sommer bei gefühlten 10°C liegt. Und wenn das Fernweh trotzdem Überhand nimmt, bietet das RI glücklicherweise diverse Möglichkeiten immer mal wieder in die Welt hinaus zu fliehen.