Ja. Der Mensch muss seine biologischen Einschränkungen überwinden, sonst hat er keine Zukunft.
Der Mensch ist das (vorläufige) Produkt stetiger inkrementeller Veränderungen und Anpassungen an die Umwelt durch den Prozess der natürlichen Selektion. Die Entwicklung vom Einzeller über den Plattwurm zum Panzerfisch bis hin zum modernen Nacktaffen dauerte allerdings ziemlich lange, rund vier Milliarden Jahre.
In den letzten paar tausend Jahren hat sich der Mensch nun zunehmend aus der Sklaverei der Gene befreit, indem er es geschafft hat, Informationen ausserhalb seiner DNS generationen- und regionenübergreifend weiterzugeben und damit einen stetig wachsenden Wissens- und Technologiepool zu kreieren. Die 1’000 Jahre oder rund 50 Generationen, welche uns vom dunkelsten Mittelalter trennen, sind aus evolutionärer Perspektive praktisch eine Momentaufnahme. Was sich jedoch drastisch verändert hat, ist die Technologie.
Eine unbequeme Wahrheit
Je weiter die Wissenschaft fortschreitet, desto mehr zerfällt der menschliche und organische Superioritätsmythos. Noch sind es erst Spiele wie Schach oder Jeopardy, in welchen der «Meister» dem «Lehrling» unterlegen ist – noch. Im Endeffekt ist der Mensch nur eine Maschine, eine sehr sophistizierte zwar, aber keineswegs eine perfekte. Spätestens wenn die unter anderem vom Human Brain Project verfolgte «Whole Brain Emulation» eines Tages Realität wird, müssen wir uns eingestehen, dass auch Dinge wie Kreativität keine Magie, sondern quantifizierbare und digital simulierbare Prozesse sind.
Die physikalischen Grenzen von künstlicher Intelligenz sind aufgrund der schnelleren Kommunikationsart enorm viel höher als jene des Menschen. Wenn maschinelles Lernen und rekursive Selbstverbesserung ihr zu weiterem exponentiellen Wachstum verhelfen, müssen wir uns also warm anziehen. Hat ein superintelligenter Organismus wirklich nichts Besseres zu tun, als auf ewig der «Server» der Menschheit zu sein? Wie lange kann der Mensch noch etwas, das Maschinen nicht besser und billiger können? Die Zukunft braucht uns nicht!
Der posthumanistische Imperativ
Der Mensch hat einen positiven Feedbackloop in Gang gesetzt, welcher ihn langfristig einem enormen Transformationsdruck aussetzt. Wenn wir einmal von einer explosionsartigen Rückkehr zum Primitivismus oder einer neoluddistischen Diktatur à la Brave New World absehen, bleibt dem Mensch nur der Versuch, mit dem exponentiellen Wachstum maschineller Intelligenz mitzuhalten, um seine langfristigen Überlebenschancen zu wahren. Dazu müssen wir allerdings in ein anderes Medium wechseln, zum Beispiel durch die Digitalisierung des Bewusstseins, wie es Transhumanistenpapst Ray Kurzweil postuliert. Dies hört sich zwar sehr radikal an, doch in Realität hat der Verschmelzungsprozess von siliziumbasierten Extensionen mit unserem Gehirn längst begonnen. Unser übliches Portal in die digitale Welt von PCs über Laptops, Smartphones hinzu Wearables wurde und wird immer stärker in unseren Körper integriert. Am Ende ist die Frage nicht, ob der Mensch eines Tages durch Technologie ersetzt werden wird, sondern ob der Mensch es schafft, ein Teil dieses neuen Paradigmas zu sein.
Kevin Kohler
Nein. Wir müssen uns nicht umprogrammieren für eine digitale Zukunft. Das tut unser Gehirn von alleine.
«Auf unseren Schultern», sagte der Physiker Michio Kaku, «sitzt das komplizierteste Objekt des Universums». Unser Gehirn besteht aus hundert Milliarden Neuronen, und jedes Neuron ist mit zehntausend anderen verbunden. Die Wissenschaft versteht unseren Denkapparat immer besser. Doch vieles bleibt rätselhaft: Wie entsteht Bewusstsein? Wie viel unserer Persönlichkeit wird vom Gehirn bestimmt? Haben wir überhaupt einen freien Willen? Jeder seriöse Hirnforscher wird bestätigen: Wir wissen weit weniger, als wir nicht wissen.
Der ultimative Evolutionsvorteil
Das Gehirn leistet Beeindruckendes. Inselbegabte ziehen die dritte Wurzel einer achtstelligen Zahl im Kopf, sprechen dutzende Sprachen fliessend oder spielen die schwierigsten Klavierstücke fehlerlos nach dem Gehör. Bei Neurologen, die verstehen wollen, wie das Gehirn solche Höchstleistungen vollbringt, überwiegen Erstaunen und Ahnungslosigkeit. Seltsame Formen von Hirnkrankheiten, nachzulesen etwa in Oliver Sacks Fallgeschichten, legen denselben Schluss nahe: Das Gehirn ist ein bisweilen unerklärliches, ja unerforschliches Organ.
Was wir wissen: Die neuronale Struktur verändert sich bis ins hohe Alter. Das Gehirn kann sich sogar selbst regenerieren. Manche Menschen erlernen nach einem Hirnschlag die Fähigkeit zu sprechen neu. Die grosse Stärke dieses erstaunlichen Organs ist das Lernen, das Anpassen an neue Situationen. Nur deshalb hat der Mensch die Erde in so kurzer Zeit bevölkert: Der ultimative Evolutionsvorteil des Homo sapiens ist sein Gehirn. Wir müssen uns nicht umprogrammieren, um mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten – unser Gehirn passt sich selbst an. Oder ist die Feinmotorik des Tastaturschreibens etwa seit der Steinzeit im Hirn gespeichert?
Keine Angst vor den Algorithmen
Das Gehirn ist kein Computer. Ein Programm kann nur, wozu es geschrieben wurde – «auf neue Situationen reagieren» ist ein unzureichend formulierter Befehl. Selbst wenn wir die Funktionsweise des Gehirns einmal vollständig entschlüsselt haben sollten, liesse sie sich nicht in Algorithmen abbilden, die dann, angeschlossen an unendliche Rechenpower, der Menschheit den Kampf ansagten. Ein Wettrüsten «Mensch gegen Maschine» wird auch in Zukunft nur zwischen den Buchdeckeln von Science-Fiction-Romanen vorkommen.
Mehr Platz für Kreativität
Es ist jedoch denkbar, dass Gadgets wie die Datenbrille stärker in physiologische Prozesse integriert werden. Vielleicht vermögen zusätzliche sensorische Reize sogar die Leistungsfähigkeit des Gehirns zu steigern. Doch der umgekehrte Schritt, die digitale Reproduktion unserer Gehirnleistung, wird nie mehr sein als eine kreative Eingebung phantasiebegabter Zukunftsforscher. Künstliche Intelligenz wird uns lästige Aufgaben abnehmen und Arbeitsspeicher freihalten für das, was wir maschineller Intelligenz immer voraushaben werden: Kreativität und Innovation, Neugier und Abenteuerlust, Empathie und Liebe.
Lukas Studer