Die Grenzen verlaufen im Appenzell eigentlich nur noch in den Köpfen der Bevölkerung. Auf der Suche nach den Gründen für deren Fortbestehen und warum sie trotzdem kein Problem sind.
«Narzissmus der kleinen Differenzen» nannte Freud die Eigenschaft menschlicher Gruppen, die eigenen Aggressionen gegen jene zu richten, die einem kulturell und geografisch am nächsten sind. Im Extremfall kann dieser zum Quell allerlei gegenseitiger Spötteleien, Beleidigungen und sogar Kriegen werden. Selbst aus einem Halbkanton stammend, bin ich mir der antizivilisatorischen Kraft dieses Gruppengefühls bewusst und ihr auch schon mehrfach erlegen. In regelmässigen Abständen finde ich mich wieder, wie ich meinem Ärger über die Baselbieter lauthals Luft verschaffe, wenn diese beispielsweise dem Baselstädtischen Theater eine erneute Budgeterhöhung versagen. Doch genug der persönlichen Geschichten. Angeregt durch das Interesse an diesem gruppenpsychologischen Phänomen, wollte ich mein Augenmerk auf eine Region richten, von der ich mir erhoffte, die reinste Form dieses Narzissmus zu finden. Unweit der Stadt St.Gallen liegen die beiden Appenzell, welche in Sachen kleinlicher Differenzen – zumindest in der Schweiz – konkurrenzlos sind.
Biedermänner ohne Brandstifter
In Folge Reformation und anschliessender Gegenreformation trennten sich die äusseren und inneren Rhoden im Jahr 1597, um einen ländlichen, katholisch und protestantisch gescheckten, territorialen Flickenteppich zu bilden. Abgesehen von den wenigen, die eine Vorliebe für trachtenlastige Alpfahrten pflegen, sind sich die restlichen Schweizerinnen und Schweizer erst Ende des letzten Jahrhunderts der Existenz dieses Gebiets wieder vollauf bewusst geworden. Damals traten die zwei Halbkantone in einen medienwirksamen Wettstreit darüber, wer der jeweiligen weiblichen Bevölkerung das Stimmrecht länger verwehren könne, wobei Appenzell Innerrhoden knapp obsiegte. Als Auswärtiger hatte ich deshalb die beiden Appenzell bis anhin vorwiegend als zu Gliedstaaten gewordene Anachronismen verstanden, die als ästhetische Vorbilder weltweiter Schweizklischees fungierten. Angesichts der Voraussetzungen – eine interreligiöse, teilstaatliche Nachbarschaft in Kombination mit der ausgeprägten lokalkulturellen Verankerung und dem gesellschaftspolitischen Konservativismus der Bevölkerung – könnte man die Region auch als «Balkan der Schweiz» bezeichnen. Aus dem historischen Lexikon der Schweiz erfuhr ich jedoch zu meiner Überraschung, dass die Kantone sich damals äusserst friedlich trennten. Die einzig nennenswerte historisch vermerkte Gewaltanwendung scheint ein Vorfall in Trogen zu sein, bei dem die protestantischen Ausserrhoder den für ihre Glaubensrichtung nicht relevanten Altarstein aus der Kirche zu schaffen versuchten. Während der Rest Europas in den Glaubenskriegen versank, nutzten die Appenzeller die Landsgemeinden und den Austausch von höflich gehaltenen Briefen, um ihrer Unzufriedenheit Gehör zu verschaffen und schlussendlich die kantonale Trennung demokratisch zu beschliessen. Die Geschichte der zwischenappenzellischen Beziehungen seither liest sich als Sammelsurium von Beispielen penibel eingehaltener Anstandsregeln des kantonaldiplomatischen Verkehrs und an Pragmatismus nicht zu übertreffenden Kooperationen. Auch heute arbeiten die Verwaltungen der beiden Kantone eng zusammen und nehmen in gewissen Bereichen die Aufgaben gemeinsam wahr.
Unterwegs im kleinsten Kanton der Welt
Ich begann mich zu fragen, ob ich mich in meiner Annahme womöglich geirrt hatte. Da jedoch weder ein Geschichtsbuch noch eine politische Elite die Emotionen der breiten Bevölkerung wiedergeben können, beschloss ich, der Sache vor Ort auf den Grund zu gehen. Ausgerüstet mit dem für die anthropologische Feldforschung typischen Reisegepäck – Wanderschuhe, Wasserflasche und Notizblock – bestieg ich an einem sonnigen Morgen die S23 in Gossau mit dem Ziel Appenzell – mit Zwischenhalt im Ausserrhoder Hauptort Herisau. Dort angekommen, fing ich an, Leute auf der Strasse nach ihrer Meinung über den anderen Halbkanton zu befragen und bat sie, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Doch von niemandem bekam ich ein schlechtes Wort zu hören, nicht einmal im Ort Appenzell selbst. Wenn sie sich doch dazu hinreissen liessen, die anderen als komische Vögel oder ähnliches zu bezeichnen, schien dies fast liebevoll gemeint zu sein. Ansonsten überwog höfliches Desinteresse zusammen mit einem, so schien es, gegenseitigen emotionalen Verbundenheitsgefühl. Die Frage nach einer Kantonsfusion wurde aber allseits verneint. Beim Einkehren in ein Wirtshaus ein paar Stunden später begann ich mir Gedanken über die Implikationen der gewonnenen Erkenntnisse zu machen. Hatte sich Freud womöglich getäuscht? Oder waren die beiden Appenzell die Ausnahme von der Regel? Angesichts der Bürgerkriege auf der Welt tendiere ich wohl eher zur zweiten These. Doch wo liegen die Gründe dafür? Ich weiss es nicht, doch sollte es jemand wissen, würde sich die UNO über einen Friedensplan zur Appenzellisierung des Nahen Ostens sicher freuen.