Die andere Spezies von Studenten

Gegen Semesterende fehlt es Normalsterblichen oftmals an Antriebskraft. Unter uns gibt es aber noch solche, bei denen der Alltag gleich die doppelte
Portion Energie abverlangt.

Den Alltag eines Studenten gilt es bekanntlich zu schätzen. Spätestens mit dem Tag, an dem uns Rektor Bieger den Studienabschluss mit einem «Lebwohl» in die Hand drückt, beginnt wohl für alle der Ernst des Lebens: Schluss mit den zweimonatigen Sommerferien, vergünstigten Sonderangeboten und dem Ausschlafen an einem Donnerstagmorgen. Trotzdem ist dieses Studentenleben nicht immer ein Zuckerschlecken. Inmitten von unkoordinierten Gruppenarbeiten, 100-seitigen Leseaufträgen und tagelangen Aufenthalten in der Bibliothek kann auch der motivierteste aller Studenten mit der berühmten Aussage «Das ist die beste Zeit deines Lebens» in eine Sinnkrise verfallen. Doch wie wäre es wohl, zeitgleich zu diesen Lasten und Annehmlichkeiten des Studienalltags sich für die Olympischen Spiele qualifizieren zu müssen?

Spezies Spitzensportler
In der Schweiz absolvieren rund 40 Prozent der Topathleten parallel zum Spitzensport ein Studium. Neben dem Unistress kommen für die Sport-Hoffnungen somit intensive und langandauernde Trainingseinheiten und Wettkampftage hinzu. Dass Sport und Studium in
der Schweiz nicht leicht zu vereinbaren sind, zeigt eine Umfrage des Bundesamts für Sport: Im Jahr 2011 gaben 60 Prozent der Schweizer Spitzensportler an, mit der Unterstützung nur mässig oder gar nicht zufrieden zu sein. So verschlägt es auffallend viele Schweizer Spitzenathleten an eine Universität ins Ausland – knapp ein Fünftel der studierenden Olympiateilnehmer von 2012 und 2014 besuchten eine Hochschule ausserhalb der Schweiz. Insbesondere in den USA herrschen Rahmenbedingungen, von denen Schweizer Sportler nur träumen können: Die Universitäten vergeben Stipendien, stellen umfassende Trainingsstrukturen zur Verfügung und berücksichtigen die Bedürfnisse von Spitzensportlern im Studienbetrieb. HSG-Masterstudent Martin Schweizer hat sich diesen lang
ersehnten Luxus zur Realität gemacht, indem er drei Jahre lang seinen Traum von Olympia mit einem Bachelor-Studium in Manchester vereinte.

Der Traum von Olympia
Martin Schweizer ist der schnellste Schweizer Brustschwimmer aller Zeiten. Die Sprintdisziplinen spulte er während seiner Karriere in Rekordzeit ab und wurde Jahr für Jahr als Schweizermeister gekrönt – die Rekorde bestehen heute noch. Auch an Europa- und Weltmeisterschaften vermochte Schweizer mit den Schwimmstars mitzuhalten und startete an der EM in Dänemark gar im Final. Doch die Olympischen Spiele zeigen sich von solchen Leistungen nicht sonderlich beeindruckt: Wegen eines winzigen Bruchteils einer Sekunde verpasste der heutige HSG-Student die geforderte Limite für die Olympischen Sommerspiele 2012. «Das war schon hart», gibt Schweizer im Gespräch vor der Bibliothek der Universität St.Gallen zu Protokoll. «Die Olympischen Spiele sind für Sportler nicht einfach ein Event oder eine Show. Es ist so viel mehr… Der olympische Gedanke war eigentlich mein Leben.» Dieser brannte aber auch nach dieser Niederlage weiter: Schweizer kündigte nach der verpassten Qualifikation kurzerhand seine Teilzeitstelle bei einer Versicherungsgesellschaft, bei der er nach seiner Ausbildung für die Finanzierung des Schwimmsports arbeitete. Wenige Tage später sass er im Vorlesungssaal der Manchester Metropolitan University – eine Universität, die bekannt dafür ist, viele Olympioniken zu produzieren.

Durch und durch Athlet
So kann sich mit einer Kurzschluss-Entscheidung ein ganzes Leben verändern. Der Wecker klingelte ab dem Neustart jeweils um 4.30 Uhr, kurz nach 5 Uhr sprang er das erste Mal ins kalte Wasser. Nach dem Besuch der Vorlesungen wurde das Hallenbad für eine zweite Trainingseinheit aufgesucht, welches meist von einer Kraftsession begleitet wurde. Doch auch ausserhalb des Schwimmens fokussierte sich der aus Herrliberg stammende Athlet konstant auf sein grosses Ziel: «Ich war wohl nicht nur im Hallenbad ein Athlet, sondern 24 Stunden am Tag.» Dazu gehört beispielsweise die komplette Umstellung der Ernährung. Aufgrund des frühen Aufstehens genoss er somit gleich zwei Mal ein ausgiebiges Frühstück, einmal vor und einmal nach der ersten Bewältigung der zahlreichen Kilometer im Wasser. Diese Hingabe zum Sport war vor allem aber dann anstrengend, wenn es Situationen gab, die man nicht beeinflussen konnte: «Wenn im Studentenwohnheim nebenan eine Party läuft und man weiss, dass man in aller Früh ins Wasser muss, dann ist das schon ein Stress und auch eine Belastung.» Dafür bot die Universität ein ganzes Team von Experten an, welche die Athleten tagtäglich umsorgten sorgten und beabsichtigten, das Leben der Olympiahoffnungen bestmöglich zu vereinfachen. Trotzdem lag es schlussendlich in seiner eigenen Hand, sowohl den Schwimmsport als auch das Bachelor-Studium erfolgreich unter einen Hut zu bringen. Mit einem Schmunzeln gibt der MUG- und CEMS-Student auch zu, dass das Schwimmen für ihn wahrscheinlich schon ein bisschen im Vordergrund stand: «…aber nur mit der Auflage, dass es im Studium gut läuft. Das
ist wohl ein Schweizer Gedanken-
gut, welches mir als Kind eingeimpft wurde.»

Einen ersten Schritt
Dass es vier Jahre später wieder nur knapp nicht für die Olympischen Spiele in Rio ausreichte, tat weh. Rückblickend realisiert der 29-Jährige allerdings, dass der Traum von den Olympischen Spielen wahrscheinlich immer eine viel wichtigere Funktion erfüllte, als die eigentliche Teilnahme es wahrscheinlich je hätte tun können. «Olympia war immer wie ein Wegweiser vor Augen für mich, der mich zu so vielen Orten und Erlebnisse geführt hat. Ich habe diesem Traum so viel zu verdanken.» Heute ist für Schweizer das Kapitel des Spitzensports beendet, was Platz für neue Träume und Ziele im beruflichen
und privaten Leben schuf. Dem Schwimmsport bleibt er trotzdem noch als Präsident seines Jugendschwimmteams erhalten. Weiter lebt er heute auch gerne das normale Studentenleben aus, merkt aber etwas frustriert, dass sich die Deadlines der Prüfungsleistungen auch ohne stundenlange Schwimmtrainings nicht unbedingt viel einfacher einhalten lassen.
Trotzdem wünscht sich der Brustspezialist, dass der Sport in der Schweiz einen höheren Stellenwert geniessen würde. Mit der Erstellung eines Konzepts zur erfolgreichen Koordination von Spitzensport und Studium wurde im Jahr 2015 glücklicherweise der erste Schritt dazu von Swiss Olympic und dem Schweizer Hochschulverband gelegt. Verschiedene Hochschulstandorte, darunter auch die Universität St. Gallen, haben Koordinationspersonen ernannt, die Athleten bei der Studienwahl beraten und sie während des Studiums bei der Vereinbarkeit von Sport und Universität unterstützen. Natürlich ist es noch ein weiter Weg, doch – wer weiss – vielleicht befindet sich schon bald die nächste grosse Olympiahoffnung in unserer Vorlesungsreihe.


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