Semesterferien mit Deadpool

Immer häufiger zieht es die Produktion der neusten Hollywood-Blockbuster in Richtung Norden. Einen Einblick, wie es sich auf einem dieser Filmsets in Kanada lebt, bot ein Sommerjob der etwas anderen Art.

Hollywood – der Ort wo Träume wahr werden. Dieser Stadtteil von Los Angeles wurde als Zentrum der Filmindustrie weltberühmt. Seit einigen Jahren wird für die Produktion der neuen Blockbuster der Traumfabrik jedoch zunehmend der Rücken zugewendet. Stattdessen erfolgt der Dreh im Nachbarland Kanada, das in der Filmwelt mittlerweile als «Hollywood North» bekannt ist. Das kanadische Vancouver gilt heute hinter Los Angeles und New York als drittgrösste Filmproduktionsstadt in ganz Nordamerika. Entstanden sind dort Filme von «Juno» bis «Fifty Shades of Grey» sowie auch etliche TV-Serien wie «Arrow» oder «Riverdale». Hat
Hollywood ausgeträumt?

Vancouver ist hollywoodreif

Dass die Filmindustrie in Vancouver heimisch geworden ist, liegt einerseits an der abwechslungsreichen Landschaft, welche die kanadische Westküste zu bieten hat: Wildnis und Grossstadt liegen nur eine kurze Autofahrt voneinander entfernt – ein Jack-
pot für eine Branche, die nach dem Grundsatz «time is money» funktioniert. Dazu profitiert Vancouver als Filmstadt davon, in der gleichen Zeitzone wie Los Angeles zu liegen. Der knapp dreistündige Flug von Vancouver nach Los Angeles gleicht für die Filmstars dem studentischen Wochenendpendeln von St. Gallen nach Fribourg. Hinzu kommen verlockende Steuervergünstigungen, welche der Filmstandort Vancouver mit sich bringt.

Die erfolgreichsten in Vancouver gedrehten Filmproduktionen stellen, jedenfalls in finanzieller Hinsicht, die beiden «Deadpool»-Kassenschlager mit dem ebenfalls aus Vancouver stammenden Hauptdarsteller Ryan Reynolds dar. Die erste Comicverfilmung avancierte im Jahr 2016 mit einem weltweiten Gesamtumsatz von über 700 Millionen US Dollar zum erfolgreichsten Film mit einer Altersfreigabe für Erwachsene aller Zeiten. Während der Drehphase versetzte das Grossmaul Deadpool die Metropolstadt Vancouver monatelang in einen Ausnahmezustand: Für die berühmte Autoverfolgungs-
szene, welche in einem grauenvollen Festspiel samt Schusswaffen und Schwerter endet, wurde das dicht befahrene Georgia-Street-Viadukt zwei Wochen lang stillgelegt. Ein Grund zur Aufregung war das für die Stadt grösstenteils aber nicht – bekanntlich fehlt es den Kanadiern nicht gerade an Ruhe und Freundlichkeit.

Filmen mit Deadpool: Gemetzel und Gartenarbeiten

«Deadpool» sprengte in jeglicher Hinsicht den üblichen Rahmen einer Filmproduktion. Die goldene Bilanzregel lautet in der Filmwelt grundsätzlich: eine Minute einer TV-Serie verlangt einen einstündigen Dreh, eine Minute eines Spielfilms dagegen einen Tag. Bei «Deadpool» benötigte eine mit Action gefüllte Minute aber bis zu einer Woche. Folglich war es beinahe schon enttäuschend, als ich im Kinosaal realisierte, dass meine einmonatige Mitarbeit nach knappen zehn Minuten bereits wieder vorbei war. Wie kommt das? Als Beispiel: Bei einer Szene, bei der es ausschliesslich darum ging, dass die von Deadpool zusammengewürfelte Heldentruppe nach einem Sprung aus dem Flugzeug ihren Tod findet, könnte man sich denken, dass die Umgebung des Gemetzels keine allzu grosse Rolle spiele. Ganz im Gegenteil transformierten unzählige Künstler den mittelständischen Vorort für die zweitägige Dreharbeit eine Woche lang zu einem Luxusviertel. Selbst das Gras wurde von Gärtnern – mit umweltschonender Farbe – grün angemalt. Die Anwohner, die für die Verfügungstellung ihrer Grundstücke finanziell entschädigt wurden, baten die Künstler nach den Aufnahmen, nicht wieder zu gehen.

Wenn selbst Filmschaffende mit 35 Jahren Filmerfahrung während des Filmdrehs immer wieder fassungslos den Kopf schütteln, weiss man, dass «Deadpool» eine Filmproduktion der besonderen Art darstellt. Vier Tage lang blockierten die Dreharbeiten drei der belebtesten Strassen Vancouvers. Dazu lüftete die Presse das Geheimnis innert kürzester Zeit, dass es sich nicht um die Produktion namens «Caribbean Blue» handelte, welcher von der Crew als Tarnname benutzt werden musste, sondern um die neueste Deadpool-Saga mit dem kanadischen Liebling Ryan Reynolds. Das Resultat: Tausende Fans und Paparazzi stürmten ans Set, um ihn bei einer Verfolgungsjagd quer durch Downtown Vancouver bewundern zu können. Keiner ahnte, dass es sich bei dem kämpfenden Deadpool auf der roten Vespa aber selten wirklich um Reynolds handelte, sondern um seinen Stunt Double Alex. Meist getarnt mit Sonnenbrille und Mütze schlürfte der eigentlich gefragte Filmstar wenige Meter entfernt ungeniert seinen Kaffee (mit wenig Milch und einem Löffel Ahornsirup).

Die Kehrseite des roten Teppichs

Im Verlauf der Wochen wurde die Filmtruppe zu einer Patchwork-Familie, die von frühmorgens bis spät-abends beisammen war – Zeit für anderes blieb kaum. Wenn der Regisseur aber ausnahmsweise bereits nach 16 Stunden via Funkgerät den «Martini-shot» meldete und damit ankündigte, dass die letzte Aufnahme des Tages kurz bevorstand, fragten sich die Crewmitglieder, was sie denn nun mit ihrem freien Abend noch anstellen sollten, es sei doch erst Mitternacht. Dass der nächste Arbeitstag in rund neun Stunden wieder von vorne losgehen würde, schien niemanden gross zu beeindrucken. Dabei ist zu beachten, dass sich die Wegzeiten im grossräumigen Kanada rasch ziehen können und je nach Drehort mit einer Heimfahrt von bis zu zwei Stunden gerechnet werden muss.

Das Filmemachen ist für die Filmschaffenden zwar eine Leidenschaft, die stressigen und intensiven Arbeitstage gehen jedoch auffallend häufig mit einer Beeinträchtigung der Gesundheit und des Privatlebens einher. Erschreckend hoch weisen sich dementsprechend die Suizid- und Scheidungsraten in besagtem Unterhaltungsbereich aus. Dazu versetzen tragische Nachrichten die Filmszene immer wieder in eine Schockstarre. In Vancouver sind beispielsweise innert kürzester Zeit nach einem Nachtdreh zwei Kamera-
männer aufgrund eines Sekundenschlafs während der Heimfahrt ums Leben gekommen. Während der Dreharbeiten zu «Deadpool 2» hat auch der Tod eines Stunt Doubles schockiert: Eine professionelle Motorradfahrerin stürzte bei einem Stunt in der Innenstadt kopfvoran durch die Glasscheibe einer Bank und verstarb noch am Unfallort. Die darauffolgende Drehpause wurde durch psychologische Betreuung und einen weltweiten Aufschrei über fehlende Sicherheitsvorkehrungen in der Filmbranche begleitet.

Das Leben am Filmset besteht also nicht nur aus Glanz und Glamour. Ganz im Gegenteil kämpft Hollywood auch gerade um das Überleben im digitalen Zeitalter: Das Aufkommen des Streaming-Riesens Netflix und die damit einhergehenden Einbussen im DVD-Geschäft fordern eine Anpassung der gesamten Filmindustrie. Es bleibt nur zu hoffen, dass zukünftig nicht noch mehr gepfuscht wird, um den nächsten Kassenschlager garantieren zu können. Denn egal ob in Los Angeles oder in Vancouver, die tragischen Vorfälle überschatten die harte Arbeit tausender Filmschaffenden, die unermüdlich und voller Leidenschaft damit beschäftigt sind, die Geschichten unserer Zeit filmisch zum Leben zu erwecken. Und ich bin froh, ein Teil davon gewesen zu sein.


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