Herzlichen Dank, dass Sie sich für unser Interview Zeit nehmen. Was ist Ihnen in den letzten Jahren als Rektor besonders in Erinnerung geblieben?
Besonders war sicher, dass die Universität St. Gallen von drei Volksabstimmungen innerhalb eines Jahres betroffen war — alle zu strategischen Grossprojekten. Dabei war die Unterstützung aller Universitätsangehörigen, insbesondere auch der Studierenden, für den Erfolg der Abstimmungen massgeblich. Sie waren in allen Regionen präsent und haben sich für ihre Alma Mater eingesetzt. Das war wirklich hervorragend. In der Folge können wir die Campuserweiterung, im Zuge der IT-Bildungsoffensive des Kantons St. Gallen die Gründung der School of Computer Science und den Joint Medical Master realisieren. Alle Projekte stärken die Universität St. Gallen im Wettbewerb. So bringt uns der Joint Medical Master viel hinsichtlich der Kooperationen, beispielsweise mit der Universität Zürich und dem Kantonsspital St. Gallen, aber auch der EMPA.
Wir können in unseren Kernforschungsgebieten als Wirtschaftsuni gesellschaftlich relevante Themen wie Patientenrecht, Gesundheitsökonomie und Health Management bearbeiten. Abschlüsse in Information Systems und Computer Science sind bereits heute Teil von Wirtschaftsuniversitäten, wie beispielsweise bei unserem engen Partner der Singapore Management University. Der Campus ist eine Hauptstärke unserer Universität, die auf Präsenz baut.
2011 hatten Sie das Amt des Rektors übernommen. Was waren für Sie die wichtigsten Entwicklungen über diese Zeit?
Einerseits gab es massive Veränderungen durch die Digitalisierung. Durch das Aufkommen beispielsweise von Tablets wurde das Lernen verändert. Information ist überall verfügbar. Mehrwert im Unterricht wird heute geschaffen durch Debatten, Anwendungsfälle, Simulationen und Rollenspiele. Blended Learning, d.h. Wissensvermittlung ausserhalb des Seminarraumes mit Hilfe von Technologie, die Förderung von Anwendung und transformativen Lernzielen im Seminarraum, ist das Zukunftsmodell.
Die Weiterentwicklung unserer Kurse auf diesem Weg von der Lehre zum Lernen wird von unserem Zentrum für Hochschuldidaktik und dem Teaching Innovation Lab gefördert. Eine andere strukturelle Entwicklung ist das zunehmende Aufkommen privater Anbieter im Hochschulbereich auf internationaler Ebene. Vor neun Jahren wurden Hochschulen noch hauptsächlich als staatlicher Sektor angesehen. Dieses Verständnis hat sich weltweit verschoben und der Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Angeboten hat sich intensiviert. Die Spitze der Rankings wird in unseren Fachbereichen vielfach von privaten Anbietern dominiert. Da macht es uns stolz, dass die HSG im Financial Times Ranking immer noch die beste staatliche Uni ist und sich als solche vorne halten kann. Damit das so bleibt, braucht es auch in Zukunft grosse Anstrengungen.
Zum Learning Center, was ist da der konkrete Beitrag zum studentischen Lernen, auch durch die Digitalisierung?
Das Learning Center soll eine Plattform bieten, auf der das studentische Lernen mit modernsten Infrastrukturen gefördert werden kann. Es soll Möglichkeiten bieten wie eine Diskussions-Simulation mit Hologrammen, aber auch Gruppenräume mit modernsten Moderationstechniken. Gleichzeitig soll es auch ein Symbol gegen innen und aussen sein für die Entwicklung von der Lehre zum Ler- nen mit einem studentenzentrierten Fokus. Es soll ein Zeichen dafür sein, dass die Universität St. Gallen die Zu- kunft aktiv mitgestalten will und dabei der Lernerfolg der Studierenden im Mittelpunkt steht. Und auf jeden Fall wird es mehr Steckdosen haben als im Audimax.
Was waren aus Ihrer Sicht die zentralen Einflüsse von Big Data?
Das war vor wenigen Jahren ebenfalls noch kein Thema. Inzwischen gab es, besonders auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung, eine enorme Entwicklung. Big Data bedeutet für die Forschung, dass nicht mehr Befragungen als Hauptquelle der Empirie dienen müssen. Man muss nicht mehr Menschen fragen, was sie denken, dass sie machen werden. Mit all den digitalen Spuren unseres Verhaltens entstehen so viele Daten, die das tatsächliche Verhalten und auch das Denken, beispielsweise das Suchverhalten, aufzeigen. Für die Erhebung und Nutzung dieser Daten braucht es technische Informatik – Kompetenz.
Es braucht Kompetenz in Data Science, Software Systems Programming and Development, Artificial Intelligence and Machine Learning sowie Interaction- and Communication-based Systems. Deshalb haben wir ein Department für Informatik mit den entsprechenden Lehrstühlen geschaffen. Von Studierenden und Rekrutierern haben wir früh das Feedback bekommen, dass wir einen stärkeren zukunftsorientierten Fokus setzen müssen, um mit unserer BWL-Bachelorausbildung weiterhin an der Spitze dabei zu sein.
Deshalb auch die Reform des Bachelors in Betriebswirtschaftslehre. Mit dieser Reform werden sowohl das integrative Denken, aber auch die analytische Kompetenz unserer Studierenden gestärkt. Fächer wie Coding fordern die Studierenden. Ich bin in diesem Zusammenhang besonders froh, dass wir auch weiterhin die Möglichkeiten der «Minuscredits» haben. Denn mit einem so breiten Kompetenzprofil, das heute von unseren Studierenden zwischen Soft- und Hardskills gefordert wird, werden Studierende auch an den Grenzen ihrer Kompetenzen gefordert.
Wie hat sich die Wahrnehmung der Universität gegenüber der Öffentlichkeit entwickelt?
Es ist klar ersichtlich, dass die Medien und die Öffentlichkeit stärker am Handeln von und an den Vorgängen an Universitäten interessiert sind. Woher Drittmittel kommen, wie Doktorierende gefördert werden, welche Nebenbeschäftigungen von Universitätsangehörigen ausgeübt werden, ist heute ein Thema. Plakativ lässt sich sagen, dass die Universität von einem Elfen- beinturm zu einem Glashaus wurde. Dem muss man Rechnung tragen und auch Wert darauf legen, dass transparente Regeln konsequent durchgesetzt werden. In einem Punkt darf man aber keine Kompromisse machen: Wenn darüber diskutiert wird, ob über politisch heikle Themen gesprochen werden darf und ob auch alternative Ideen zum Ausdruck gebracht werden dürfen. Universitäten sind Orte des offenen und auch engagierten Austauschs, ein Marktplatz von Erkenntnissen und Ideen, den es zu schützen gilt.
Wir haben jetzt viel über die Verände- rung der Rahmenbedingungen gesprochen. Wie haben sich die Studierenden in den letzten zehn Jahren verändert?
Ich habe den subjektiven Eindruck, dass die Studierenden pragmatischer und zu einem gewissen Grad angepasster geworden sind. Vor zehn Jahren war es nicht abwegig in den Vorlesungssälen mal ein Papierflugzeug zu basteln oder sich anderweitigen Aktivitäten im Internet zu widmen. Heute hat man den Eindruck, dass die Studierenden den Druck des internationalen Wettbewerbs spüren und alle Mittel ergreifen, um sich auf diesen vorbereiten zu können. So werden heute oft fast wörtliche Mitschriften der Vorlesungen gemacht. Nebst angepasstem Verhalten, Fleiss und Disziplin braucht die Gesellschaft aber auch Querdenker, sogar Proteste, die für kreative Prozesse wichtig sind. Vielleicht hat man heute davor auch ein bisschen Angst, denn Ihre Generation weiss, dass alles digital erfasst wird, jeder Schritt, jede Nachricht. Wenn man so aufwächst, dann führt das möglicherweise zu einem pragmatischen Anpassen. Aber das sollte man nicht übertreiben, junge Menschen müssen Fehler machen können, aus dem Rahmen fallen dürfen, man sollte also auch mal nicht angepasst sein.
Das prisma wurde kürzlich als unkritisch und rektoratstreu bezeichnet. Haben Sie das auch so empfunden?
Wir haben im Rektorat vielfach über das prisma diskutiert, weil Ansichten vertreten wurden, welche wir so nicht teilten. Aber gerade deshalb ist das prisma wichtig, es hat eine eigene Meinung und bringt die Stimme der Studierenden auf. Für uns wäre es vielleicht einfacher gewesen, wenn gewisse Diskussionen nicht aufgegriffen worden wären, von Rektoratstreue kann man da also nicht sprechen. Aber wir sind sehr froh über diese kritische Stimme auf dem Campus. Es ist wichtig, dass die verschiedenen Standpunkte und Sichtweisen aufgegriffen und diskutiert werden und aus meiner Sicht hat das prisma dies geschafft.
Wie hat sich Ihre generelle Sichtweise verändert durch Ihre Position als Rektor der Universität St. Gallen?
Ich hatte durch diese Position die Möglichkeit, in verschiedene Kreise Einblicke zu bekommen, beispielsweise, auch durch meine Nebenbeschäftigungen, in die wirtschaftliche Spitze. Auch durch meine Tätigkeit als Präsident der Kammer der Universitären Hochschulen in die nationale oder als Delegationsmitglied auf Ministerreisen sogar in die internationale Politik. Für mich war faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich Entscheidungen in Politik und in Privatwirtschaft entstehen. Auch bekam ich den Eindruck, dass es je länger je weniger richtig mächtige Menschen gibt. Auch führende Wirtschaftspersonen stehen unter dem Druck der Digitalisierung, sie wissen um die Macht von «Shitstorms» und die Bedeutung von Regulationen. Genauso wie Politiker um ihre Abhängigkeit von der Wirtschaft und von internationalen Verflechtungen wissen. Die zunehmende Vernetzung dämpft die Macht einzelner. Auch hat sich ein globaler Wettbewerb geöffnet — ein Wettbewerb nicht nur bei Leistungen und Produkten, sondern auch zwischen Standorten, Systemen und institutionellen Arrangements. Beispielsweise sehen wir das heute im Bereich von Blockchain, um intelligente Regulierung.
Eine andere Frage: Was ist ihre Vision für die HSG, wo werden uns die nächsten Jahre hinbringen?
Dies ist jetzt natürlich ein Thema für das neue Rektoratsteam. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass man sich nach einem Rücktritt nicht in die Arbeit der Nachfolger einmischt – und daran versuche ich mich auch zu halten. Es gibt im Bereich der Höheren Bildung wie in anderen Branchen eine «Industrielogik» mit klaren Entwicklungstrends. Auch bei Universitäten intensiviert sich der internationale Wettbewerb. Es wird immer anspruchsvoller, sich bei einer wachsen- den Konkurrenz auch aus neuen Regionen als internationales Forschungs- und Bildungszentrum zu positionieren. Dabei hat die HSG als fokussierte Universität durchaus gute Perspektiven. An der HSG, wie in vielen Expertenorganisationen, ist es aber nie das Rektorat alleine, welches die Entwicklung vorantreibt, sondern die Gesamtheit der Universitätsangehörigen. Viele Initiativen kommen aus der Professorenschaft, aus der Verwaltung oder von den Studierenden. Eine Universität ist nicht «top down» führbar wie ein «normales» Unternehmen, das Ziel besteht vielmehr darin, Prozesse zu moderieren, Chancen zu ergreifen und Entwicklungen zu ermöglichen und zu lenken. Das Rektorat arbeitet sehr partizipativ und versucht, eine sinnvolle Mischung aus verschiedenen Führungsstilen situativ zu voll- ziehen. Zentrale Führung braucht es allenfalls in Krisensituationen, wobei auch dann im Team gearbeitet wird.
Stichwort Führung: Haben Sie das Gefühl, dass im BWL-Bachelor der praktische Führungsstil in diesen vielen Theorien verloren gehen kann?
Die Erfahrung zeigt, dass eine gute Kombination von Rigour und Relevance sehr wichtig ist. So haben unsere besten Professorinnen und Professoren, welche in Top-Journals publizieren und in der betriebswirtschaftlichen Forschung tief verankert sind, in der Praxis einen sehr grossen Einfluss. Dort sehe ich keinen Widerspruch. Was wir bei der Betriebswirtschaftslehre gut machen, ist genau diese Kombination zwischen Theorie und Praxis, welche bei uns tief verwurzelt ist. Für die Studierenden kann die Fülle an Theorien und Modellen, welche in der BWL weniger als in anderen Disziplinen aufeinander aufbauen, sondern in einem Wettbewerb stehen, eine Herausforderung sein. Deshalb muss eine Programmleitung darauf achten, dass nicht zu viel redundantes Wissen vermittelt und die Denkschulung vernachlässigt wird. Das haben wir auch beim reformierten BWL-Bachelor zu erreichen versucht.
Welche Rolle übernimmt für Sie in dieser Hinsicht das neu im BWL Bachelor eingeführte Pflichtfach Informatik?
Das Pflichtfach hat sehr grosse Vorteile. Wie ich bereits erwähnt habe, ist die IT-Kompetenz auf dem internationalen Markt von grosser Bedeutung. Für die Studierenden ist das Pflichtfach Informatik teilweise eine grosse Belastung, weil es etwas Neues ist. Die Studentenschaft hat hier Unterstützungsmassnahmen mit der Summer School und Tutoring geschaffen, was wir sehr lobenswert finden und was den unternehmerischen, selbstverantwortlichen Stil unserer Studierenden zeigt. Jede Studienreform, jede didaktische Innovation bietet Risiken. Aber ohne Risiken kann sich eine Organisation nicht weiterentwickeln. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben: Nach meiner Zeit als Rektor werde ich mich wieder vermehrt in der Lehre engagieren. So werde ich ein Pflichtfach im Master in Marketing übernehmen. Da werde ich neue Formate ausprobieren und möglichst klassische «Lehre» vermeiden. Wahrscheinlich werde ich auch Lehrgeld zahlen und davon ausgehen müssen, dass es zu Beginn schlechte Unterrichtsbewertungen geben kann. Es gibt Universitäten, welche bei Schwierigkeiten mit neuen Kursen diese nach einem bis zwei Versuchen aus dem Curriculum streichen. Das tun wir nicht, ansonsten wäre niemand mehr bereit, solche Risiken einzugehen.
Wäre es denn möglich, dass das Assessmentjahr gar nicht die beste Vorbereitung auf ein BWL- oder IA-Studium an der HSG ist?
Das Assessmentjahr ist ein grosses Asset der HSG. Es stellt sicher, dass alle Studierenden über den relevanten Wissensstand für das Bachelorstudium verfügen. Und zwar in der Breite, die für ein integratives Verständnis nötig ist. Zweitens bietet es eine Angewöhnungsphase an die Universität und das universitäre Lernen. Für uns ist auch wichtig, dass die Studierenden nach dem ersten Jahr noch ihren Major wechseln können. Es geht uns darum, nicht zu viel Wissen nebeneinanderzusetzen, sondern auch eine gewisse Tiefe zu erreichen und beispielsweise mit dem Integrationsseminar Zusammenhänge aufzuzeigen.
Die letzte Frage: Das prisma wird 60 Jahre alt, was wünschen Sie uns?
Weiterhin eine konstruktiv kritische Haltung, weiterhin eine Breite von Themen, welche für die Studierenden von heute relevant sind, ein Engagement für einen lebendigen Campus und dass es das prisma weiterhin auch in gedruckter Form gibt.