Pflanzen als Mitbewohner

Einerseits können wir wegen COVID-19 nicht so viel ausgehen. Andererseits gibt es viele neue Studierende an der HSG, die zum ersten Mal alleine wohnen. Mit dem immer kälter werdenden Wetter kann hier und da die Einsamkeit einen richtigen Gemütsdämpfer verpassen. Ein bisschen Grün hilft.

Während dem letzten Semester war es besonders schwer, mein eher instabiles Sozialleben aufrechtzuerhalten. Ich kannte vor meinem Umzug nach St.Gallen niemanden, und die wenigen Freunde, die ich nach den ersten sechs Monaten hatte, sind während dem Peak von COVID-19’s Karriere nach Hause gefahren.

Ich wohne zugegebenermassen nicht alleine, jedoch sass ich aus verschiedenen Gründen grossteils in meinem Zimmer alleine. Abgesehen davon, dass diese Situation fast schon lachhaft deprimierend klingt, wird es irgendwann auch ziemlich langweilig. Ich brauchte ein Projekt. 

Zufälligerweise entschloss sich zu genau der Zeit eine meiner Kartoffeln dazu, sich auch einsam zu fühlen. Folglich lud sie einen Pilz in ihre Tüte ein. Besonders glücklich war ich über diese neue Wohngemeinschaft nicht, es graut mir nämlich davor Essbares wegzuschmeissen. Zum Glück lassen sich Kartoffeln gut recyceln. Und darum soll es hier gehen: 

Ich habe durch viel Trial-and-Error gelernt, wie man Kartoffelkinder grosszuziehen hat. Es kann erstaunlich kompliziert werden, obwohl gerade Kartoffeln als eine der einfachsten Anbaupflanzen bekannt ist. Am einfachsten ist es, wenn sie einen Auslauf haben: einen Garten, einen Balkon, egal was, solange es draussen ist. Nur das Fenster öffnen reicht nicht (obwohl ich das versucht habe, mehr dazu später).  

Wenn man nun eine Kartoffel hat, geht es darum sie auf ihr neues Zuhause vorzubereiten. Meine erste Kartoffel war winzig, und hatte auch nur ein Auge. In dem Fall kann man das ganze Ding wie es ist in die Erde stecken. Sobald die Kartoffel etwas grösser ist mit mehreren Augen, wird es ein wenig barbarisch: Sie muss in Teile geschnitten werden, sodass jedes Teil genau ein Auge besitzt. Der Vorteil ist, dass man dadurch gleich mehrere Kartoffelfreunde kriegt. 

Kartoffeln können genauso gut im Topf wie auch im Erdboden wachsen. Es muss bloss genug Platz geben. Jede Kartoffel oder jedes Kartoffelstück muss mit dem Auge nach oben in 12 cm Tiefe und mit 30 cm Abstand zueinander begraben werden. Wenn ihr eigene Kartoffeln ernten wollt, ist es übrigens auch wichtig Platz nach oben einzuplanen: Sobald die Pflanze spriesst, kann man die Blätterstummel, die ca. alle 5 cm am Stängel erscheinen, begraben. Diese werden unter der Erde zu Tochterknollen. (Nur begrabt bitte nicht alle Blattsprösslinge, Photosynthese muss die Pflanze trotzdem noch betreiben können!) 

Bei der Erde selbst sind Kartoffeln nicht pingelig. Theoretisch bevorzugen sie kühle und lose Erde, die später mit Dünger oder Kompost angereichert wird. Ich persönlich habe Erde aus dem Wald geklaut was genauso gut funktioniert. Bei der Wässerung sollen sie alle 4-5 Tage gegossen werden. Öfter wässern kann die Pflanze ertränken, bei weniger verdurstet sie.  

In meinem speziellen Fall gibt es keinen Balkon und keinen Garten. Das bedeutet, dass meine Pflanzen zwar direkt unter dem Dachfenster leben, aber dennoch ein wenig an Geburtsfehlern leiden. Zum einen wachsen sie sehr gross, sie versuchen regelrecht durch das Fenster zu entkommen. Irgendwann wird es notwendig, sie an einen Stock festzubinden, damit sie aufrecht stehen können.  

Übrigens ist das kein sehr grosser Grund zur Sorge, schliesslich ist die Kartoffel mit der Tomate verwandt, die auch für ihre Kletterkünste bekannt ist. Die kleinen grünen Tomaten, die an der Kartoffelpflanze wachsen, eignen sich übrigens vortrefflich, um frühzeitig an sein Erbe zu gelangen (in anderen Worten: Nicht essen!).  

Zum anderen leidet die Lebensdauer der Kartoffel. Typischerweise leben sie drei bis sechs Monate. Meine Pflanzen haben einen Lebensdurchschnitt von bisher 2-4 Monaten. Es ist möglich, dass der fehlende Auslauf ein Teil des Todesgrundes ist. Meine erste Pflanze, genannt Spud Murphy, starb unter anderem an Schock. Der Arme hat einen Umzug in einen grösseren Topf nicht überlebt. Deswegen ist es wichtig, von vornherein den richtigen Topf zu wählen. 

Seine drei Töchter, Annegret, Alberta und Agatha Murphy, wurden aus einer grossen Knolle geboren. Ich vermute sie haben sich gegenseitig umgebracht, bis nur noch Alberta als Siegerin am Leben war. Deswegen ist es wichtig, die Augen zu trennen. Pflanzen sind extrem aggressive und brutale Lebewesen, und sie nehmen ihren „personal bubble“ sehr ernst. Wie einige von uns wissen, respektieren gerade die Geschwister solche Grenzen nicht.  

Ein Vorteil des Wohnungslebens für die Kartoffelpflanze ist, dass sie nicht vom Klima abhängig sind. Für draussen wird es für die Kartoffel langsam zu spät, man hätte sie bestenfalls schon einmal im April, und vielleicht nochmal im September einpflanzen sollen. Für indoor-Pflanzen muss man bloss bedenken, dass Kartoffeln Heizungsluft nicht besonders gernhaben. Deswegen darf das Lüften auch im Winter nicht vergessen werden.  

Wie ihr sicher herauslesen könnt, ist es definitiv möglich eine emotionale Verbindung mit seinen Pflanzen aufzubauen. Ich empfehle, den Pflanzen eigene Namen zu geben, und ihre Persönlichkeiten zu beobachten. Es macht einen grossen Unterschied, ob man Pflanzen rein als Zimmerdeko sieht, oder als Mitbewohner.  

Manche Menschen brauchen etwas, worum sie sich liebevoll kümmern können. Manche Menschen brauchen etwas, was zuhört und nicht weglaufen kann. Manche Menschen nutzen ihre Pflanzen als spirituelle Verbindung zwischen ihnen und ihren menschlichen Freunden. Und manche Menschen möchten einfach einen biologischen Müllfresser. (Tipp: Biomüll so tief es geht eingraben, sonst stinkt‘s. Aber die Kartoffeln haben‘s echt gern.) 

Man kann mit seiner Beziehung zu seinen Pflanzen ganz kreativ werden. Und wenn man sich schon einsam und gelangweilt fühlt, hilft es einfach zu wissen, dass in seinem Topf gerade ein Doppelmord zwischen Schwestern begangen wird.  

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