Ausgang zweimal anders

Nach zwei herrlich sonnigen und dementsprechend wärmeren Tagen fühle ich mich dem angekündigten Temperatursturz für morgen gewappnet. Dass ich heute meine Hausaufgaben statt in meinem Zimmer auf dem Dach des Wohnheims erledigt habe, hat sich toll auf meinen Vitamin-D-Spiegel und Gemüt ausgewirkt. Die Tatsache, dass Effizienz und Qualität etwas darunter litten, scheint da nebensächlich. Jetzt aber zur letzten Woche und zum Wochenende. Am Mittwoch traf ich mich mit Kyoko, einer japanischen Studentin, die im Rahmen einer Schweizreise mit ihrem Uni-Club vergangenen März eine Woche bei mir und meiner Familie gelebt hat. Das Wiedersehen war freudig, und obwohl mein Japanisch- etwa ihrem Englisch-Level entsprach (die Kommunikation sich ergo ziemlich schwierig gestaltete), verging der Abend wie im Flug. Da sie inzwischen die Uni abgeschlossen hat und, wie sie mir bereits in Emails berichtete, nun in einem Frucht-Laden arbeitet, zeigte sie mir ihren Arbeitsplatz in Nihombashi.

Meine Vorstellung von diesem Frucht-Laden erwies sich als erbärmliche Untertreibung der Realität. Sembikiya ist ein luxuriöses Delikatessen-Geschäft, mit eleganter, geschmackvoller Einrichtung und köstlichem Angebot. Als wir eintraten, wurde sie von ihren Arbeitskollegen wiedererkannt, und als sie mich sahen, ging das grosse Verbeugen los. Als wäre ich ein wichtiger Stammkunde zeigten sich alle hocherfreut, dass Kyoko mich mitgebracht hatte, und der Vorgesetzte zögerte keinen Moment,  mir das zugehörige Dessert-Restaurant im ersten Stock zu zeigen. Als der Lift sich öffnete und wir das (wenn überhaupt möglich) noch schönere Restaurant betraten, um gleich darauf von sich respektvoll verbeugendem Personal zu einem Platz mit herrlicher Aussicht auf die weihnachtlich beleuchteten Strassen Nihombashi’s geführt zu werden, wurde ich immer verlegener. Ich war froh, einigermassen adrett gekleidet zu sein, und noch froher, dass ich die Grundsätze des Auswärts-Essens in Japan kannte. So würde ich mich wenigstens nicht übermässig blamieren. Immer noch beeindruckt von meiner edlen Umgebung, griff ich zur Speisekarte – und schon drängte sich das erste Dilemma auf. War ich nun eingeladen oder nicht? Falls ja, sollte ich besser nicht zu teuer speisen (wie parasitär!); falls nein, wollte ich hingegen auf keinen Fall geizig sein und das Billigste aussuchen (was meinem Budget entspräche).  Kyoko rettete mich, indem sie mir ein Frucht-Parfait empfahl. Sie wollte das gleiche nehmen, es war mittlere Preisklasse und sah einfach überwältigend lecker aus – perfekt!

Mmmh, es war ein Traum. Essbares Glück könnte man sagen. So unterhielten wir uns lange in angenehmer Atmosphäre. Als es dann Zeit war, zu gehen, war ich immer noch unsicher bezüglich Bezahlung, also zückte ich einfach mal mein Portemonnaie. Kyoko meinte dann schnell, sie wolle mich einladen, aber noch bevor ich mich verlegen bedanken konnte, meinte ein zweiter Angestellter, dies sei nicht nötig, wir seien beide herzlich eingeladen. Kyoko schien nicht weniger überrascht und ebenso verlegen wie ich, und beide bedankten wir uns mit mehrmaligem Verbeugen höflich. Alle waren entzückt.

mit Kyoko

Während sich der Rest der Woche weniger einmalig zeigte, wurde es am Wochenende nochmal spannend. Noch vor Tageslicht am Samstagmorgen erfuhr ich, was die wirksamste Methode ist, um aus dem wohlig-warmen Bett ins eisig-kalte Zimmer aufzustehen: Ein Erdbeben, was sonst. Nur Minuten vorher hatte mich ein wenig angenehmer Traum geweckt, und noch etwas verwirrt lag ich da, als das Rütteln begann. Da es ein paarmal recht grob ruckelte, sprang ich wie ein aufgeschrecktes Kaninchen aus dem Bett und öffnete, wie eigentlich ja angeordnet, die Tür. Und obwohl auch andere in der Tür standen, kam ich mir im Nachhinein ziemlich dämlich vor, so überreagiert zu haben. Die meisten nahmen das Ganze nämlich ziemlich cool. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass es immerhin ein Beben der Stärke 5 war, mit Epizentrum in Chiba (30 km von Kasai entfernt). Deshalb war es so gut zu spüren, und es gab sogar ein Nachbeben. Trotzdem hat man hier eigentlich nichts zu befürchten. Mein Unbehagen beschränkt sich auch auf die paar Sekunden, in denen es rüttelt. Vorher denke ich nie dran, und nachher ist es schnell vergessen, abgesehen davon dass alle fünf Sinne für einige Minuten extrem aufmerksam sind.

Trotz sintflutartigen Regenfällen am Vormittag ging ich mit einer grösseren Gruppe von Austauschstudenten zur Uni, um den Speech-Contest (ein Wettbewerb im Rede-Halten) zu sehen, und unsere teilnehmenden Freunde anzufeuern. Es ging darum, eine 5-10 minütige Rede in Japanisch zu halten. Da die Teilnehmer alle unterschiedlich lange Japanisch studiert haben, zeigten sich grosse Unterschiede, aber ich bewunderte sie alle. Ich war ausgesprochen froh, im Publikum zu sitzen, und nicht vor dem Rednerpult mit Mikrofon zu stehen. Unser Freund Thibault, ein Franzose, brachte uns alle zum Lachen indem er einen traditionellen Männer-Kimono trug, den Pult beiseite schieben liess und sich stattdessen in japanischer Art auf einem Sitzkissen niederkniete. Auch war seine Ankündigungs-Musik traditionell japanisch (anders als die Pop-Musik der anderen Teilnehmer). Wirklich originell, und seine Rede klang äusserst gekonnt und witzig (ich verstand natürlich kaum etwas). Trotzdem gewann nicht er, sondern Ghulchevra; sie kommt aus Tadschikistan und lernt seit 6 Jahren Japanisch. Als Siegerin konnte sie sich über 500 Franken Reisegeld freuen.

Nach dem Contest verbrachten wir noch etwas Zeit in einem Café, bevor wir mit der U-Bahn nach Waseda fuhren (dieser Stadtteil ist bekannt für die riesige Waseda-Universität). Mittlerweile waren wir eine Gruppe von 30 Leuten, Japaner und Austauschstudenten. Unser Ziel war eine Bar, in der wir gemeinsam den Geburtstag von zwei unserer Freunde feiern wollten. Obwohl wir uns zuerst verirrten, fanden wir die Bar dann doch, und füllten sie auch grad randvoll. Es war als hätten wir eine Privat-Bar nur für uns!

Geburtstagsfeier

Das Trink-Arrangement war ein ‘nomihōdai’, was soviel heisst wie „Krug ohne Boden“. Das steht natürlich für ‘all you can drink’, man bezahlt also einen Pauschalpreis (in diesem Fall spottbillige 1500 Yen, ca. 16.-) und kann für eine gesetzte Zeit (in diesem Fall 2,5 Stunden) so viel trinken wie man möchte. Und zwar alles inklusive (von Bier bis Cocktails!). Ich befürchtete, dass wir (im Vergleich zu den Japanern enorm trinkfesten) Europäer und Amerikaner diese Bar teuer zu stehen kommen würden. Da die Barkeeper allerdings extrem ‘leichte’ Getränke mixten, war wohl allen gedient. Wir konnten uns durch die Getränkekarte probieren, die Stimmung wurde ausgelassen, aber nicht überbordend, und die Bar ging nicht bankrott. Am Ende schafften wir es alle problemlos zurück nach Kasai, und nach einem Schlussspurt kamen wir sogar noch eine Minute vor Mitternacht zu Hause an. Es war ein gelungener Abend!

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MEHR DAZU


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