Tokyo in 10 Tagen Teil 1

Hauptstrasse in Kasai

Liebe Leser,

Seht ihr es, das grünliche Ding da? Meinem Gewissen ist tatsächlich etwas schlecht, nachdem ich euch so lange hab warten lassen. Das Programm der ersten drei Wochen des neuen Jahres war aber auch äusserst eng und erlaubte nur wenig Zeit vor dem Computer. Am 31. Dezember frühmorgens nahm ich den Bus zum Narita Flughafen, um meine beiden Geschwister Raphael und Alessia in Empfang zu nehmen. Vielleicht war es die Wiedersehensfreude, aus irgendeinem Grund scheiterte ich gleich schon mal als Touristenführer, indem ich uns auf dem falschen Deck auf den Bus warten liess. Wir verpassten den Bus und verbrachten infolgedessen fast zwei weitere Stunden ungeplant am Flughafen. Meine Geschwister nahmen die Panne dankenswerterweise mit Humor.

Nachdem wir es dann doch noch per Bus nach Tokyo geschafft hatten, zeigte ich ihnen als erstes Kasai, meinen Wohnort. Obwohl in meinen Augen natürlich wenig aufregend, beeindruckte der Pendler-Vorort meine Geschwister doch ziemlich, mit den japanischen Schriftzeichen überall, den vielen Velofahrern auf den Trottoirs, den mit zum Teil kuriosen (Ess-)Waren vollgestopften Geschäften und riesigen (zwar etwas schäbigen und architektonisch wenig ästhetischen) Wohnkomplexen.

1. Januar

Vielleicht zum Anfang noch ein paar Worte zum japanischen Neujahr (‘shougatsu’). Dieses erstreckt sich in der Regel über die ersten drei Tage des neuen Jahres. Touristen wird eigentlich davon abgeraten, an Neujahr nach Japan zu reisen, weil ausserordentlich viele Geschäfte, Sehenswürdigkeiten und Restaurants geschlossen sind und Japans Verkehrswege aufgrund des Inlandtourismus nur so ächzen. Die Japaner pilgern nämlich in Scharen zu  Schreinen und Tempeln fürs ‘hatsumoude’, den ersten Schreinbesuch des neuen Jahres. Die bekannten Schreinanlagen sind dementsprechend gerammelt voll. Dessen ungeachtet besuchten wir am Sonntag, 1. Januar, den Sensouji-Tempel in Asakusa, ein Wahrzeichen Tokyos. Wie erwartet hatten tausende Japaner das Gleiche vor, und so bewegten wir uns im Schneckentempo durch die Nakamise mit ihren vollgestopften Souvenirläden in Richtung Tempel. Aber ebenso erwartungsgemäss war alles bestens organisiert, mit Absperrungen, Hinweisschildern („bitte langsam und vorsichtig geradeaus gehen“, „bitte etwas warten“) und enorm viel Personal.

Menschenstrom zum Sensouji

Als wir endlich, zwischen andere Besucher gequetscht, im Tempel standen, war da kein Durchkommen nach vorne. Jeder möchte nämlich seine 5-Yen Münze in die Schreintruhe werfen, um zu beten. Wir bewegten uns osmose-artig geduldig nach vorne, während andere ihr Geld kurzum in hohem Bogen über die Menge hinwegwarfen (und nicht immer trafen). Nachdem wir unsere Münzen treffsicher aus immerhin 3 Metern Entfernung eingelocht hatten, verliessen wir den Tempel durch den Seitenausgang und fanden uns inmitten von Essständen wieder. Hier stärkten wir uns mit okonomiyaki (gebratenes Gemüse mit Ei und Omelett), bevor wir uns je ein omikuchi (Glückshoroskop) ergatterten. Ich zog leider das ‘allerletzte Glück’, also das kleinstmögliche, aber immerhin kein ‘Unglück’. Trotzdem knotete ich es nach japanischer Art an die dafür vorgesehenen Fäden, damit ein Priester es am Ende des Tages abholt und dafür betet, dass es nicht eintritt. Manch einer findet den Anblick der hunderten von Papierknoten vielleicht tröstend (im Wissen, dass man nicht als einziger Pech hatte).

Danach gings zurück zum Bahnhof und an diesem vorbei ans Flussufer des Sumida Flusses. Von dort aus kann man nämlich wunderbar das Asahi-Bier Gebäude fotografieren, auf dessen Dach ein goldener Bierschaumtropfen thront. Zu dieser Auffassung gelangt man aber nur durch Vorwissen, denn tatsächlich sieht das Konstrukt eher wie ein Häufchen aus – die Japaner nennen das Gebäude dementsprechend ‘kin no unko’ („goldener Kothaufen“).

das Asahi-Bier Gebäude

Danach fuhren wir nach Ginza, spazierten die lange Chuô-Dori entlang und bestaunten die kunstvollen bestückten Schaufenster. Ausserdem sahen wir vor einem Geschäft eine lange Schlange Wartender, die es sich am Boden auf Decken und in Schlafsäcken gemütlich gemacht hatten. Ich hatte eine Vermutung, und ein späteres klärendes Gespräch mit einer japanischen Freundin bestätigte diese: Diese Leute würden hier übernachten, um am nächsten Tag bei Ladenöffnung die ersten zu sein, die das Geschäft betreten und sich ein ‘Fukuro’ schnappen konnten. ‘Fukuro’, kurz für ‘fuku-bukuro’ („Glücks-Beutel“), sind eine Art Wundertüten, die ausschliesslich an den ersten 3-5 Tagen des neuen Jahres erhältlich sind. Sie haben einen fixen Preis (von 50.- in kleineren Shops bis 500.- in Markenläden), und man weiss nicht was drinnen steckt. Meist übertrifft der Wert des Inhalts jedoch den Kaufpreis, und deshalb sind die Fukuro ein absoluter Renner. Mit Auswirkungen, die bei Nicht-Japanern garantiert Stirnrunzeln hervorrufen. Warum eine ganze Nacht in der Kälte verbringen, nur um etwas ‘blind’ zu kaufen, also ohne zu wissen, ob es einem schlussendlich gefällt? Neujahr ist in den Läden sowieso eine turbulente Zeit, doch dazu später mehr. Wir jedenfalls waren froh, zurück im Hotel respektive Wohnheim mit der Tür die Kälte aussperren zu können.

2. Januar

Relativ spontan entschlossen wir uns am Montagmorgen, den Neujahrsgruss des Kaisers im Palastgarten zu sehen. Dieser Teil des kaiserlichen Anwesens ist nur an zwei Tagen im Jahr der Öffentlichkeit zugänglich, am Geburtstag des Kaisers (23. Dez.) und am 2. Januar zum Neujahrsgruss. Wie immer war alles bestens organisiert: die Besucher wurden gebeten, ihre Taschen für das Sicherheitspersonal zu öffnen, Flaschen abzugeben, und sich abtasten zu lassen. Danach durfte man sich einreihen, um in den Palastgarten zu gehen.

Eingang zum Kaiserpalast
im Palastgarten

So kamen wir unerwartet rasch vor den Kaiserpalast zu stehen, mit dem Balkon auf dem sich die Kaiserfamilie fünfmal präsentieren würde. Wir kamen zur 4. Runde, mussten nur 1,5 Stunden warten, und hatten einen ziemlich guten Platz genau in der Mitte. Als die komplette Kaiserfamilie den Balkon betrat, gab es ‘Banzai’-Rufe und tüchtiges Fahnengewedel, das auf ein Zeichen hin sofort wieder erstarb. Dann sprach der Kaiser. Natürlich wenig Sensationelles, aber er sagte, dass das letzte Jahr trotz der Schwierigkeiten ein gutes Jahr war, und dass das japanische Volk gemeinsam für Glück im neuen Jahr beten solle. Unter erneutem begeistertem Fahnengewedel verabschiedete sich die Kaiserfamilie schliesslich winkend, und wir zogen durch den sonst unbetretbaren Teil des Palastgartens davon. Für mich war es ein berührendes Erlebnis zu sehen, wie die Worte eines mir ganz normal erscheinenden, alten, freundlichen Mannes die Herzen der versammelten Japaner streifte, und ihnen Mut zusprach.

Neujahrsgruss des Kaisers

Den Rest des Tages verbrachten wir im Süden Tokyos, wo wir durch die Tempelanlage des Zojoji spazierten, um wenig später am Fuss des Tokyo Towers zu stehen kamen. Der dem Eiffelturm ähnelnde Tokyo Tower ist 300m kürzer als der Sky Tree, dafür besteigbar. Und so nahmen wir die Stufen zum ersten Aussichtsdeck (145m) zu Fuss. Oben angekommen genossen wir fast zwei Stunden lang die Aussicht auf die endlos scheinende Megacity (inklusive Fuji!), in ständig wechselndem Licht:

Fujiyama am Horizont
Abenddämmerung

im Abendlicht

Da wir das Tageslicht und den Sonnenuntergang verpasst hatten, wollten wir uns die Fahrt aufs höhere Deck (250m) für ein andermal aufsparen. So stiegen wir die Stufen wieder hinab, und hatten den Turm bald im Rücken, mit dem Neujahrsschriftzug ’2012′ auf Höhe der 1. Plattform.

der Tokyo Tower

3. Januar

Am Dienstag führte ich meine Gäste nach Shinjuku, zur eigentlichen Skyline Tokyo’s, nachdem wir diese bisher nur von weitem und aus der Höhe gesehen hatten. Wir erkundeten zuerst das Wolkenkratzerviertel, mit dem prominenten Präfekturverwaltungsgebäude und den Bürogiganten von grossen Firmen wie Mitsui.

Wolkenkratzer in Shinjuku

Indem wir den Bahnhof durchquerten, wechselten wir auf die andere Seite Shinjuku’s, die einen grossartigen Kontrast zum kühlen, steifen und stillen Wolkenkratzerviertel bietet. Hier ist das Kabuki-cho, gewundene Ladenstrassen (in denen man sich auch mal ins nahe Schwulen-Viertel verirren oder Yakuza-Mafiosi antreffen kann), Leuchtreklamen und allerlei Vergnügungsmöglichkeiten. Allerdings waren die meisten Geschäfte noch immer geschlossen, obwohl verschiedene Informationsquellen die Neujahrsflaute auf den 1.-2. Januar beschränkten. Wir fanden aber doch ein paar interessante Geschäfte, und bewegten uns konsequent in Richtung Yoyogi-Park mit dem sich darin befindlichen Meiji Schrein. Nach der ungewöhnlichen Stille in Shinjuku, war dieser ausserordentlich belebt. Als wir in den Weg zum Schrein einbogen, fanden wir uns am Ende einer gigantischen Warteschlange, wo normalerweise nur vereinzelte Spaziergänger und Schreinbesucher anzutreffen sind. Etwas überrascht reihten wir uns erstmal ein, während ich versuchte, die Schriftzeichen der Banner links und rechts zu entziffern, um herauszufinden was der Anlass für dieses ausserirdische Gedränge war. Bald war klar: Es ist das Zusammentreffen von hatsumoude und dem 100-jährigen Jubiläum der Einschreinung (weiss leider kein anderes Wort dafür) von Kaiser Meiji, der 1912 verstarb. Grund genug für Tausende Japaner, stundenlang anzustehen, aber für uns? Die Entscheidung wurde uns abgenommen, denn mittlerweile hatte man hinter uns aufgeschlossen, und wir waren nun Bestandteil der trägen Masse. So ging es schleppend vorwärts, bis, bereits nach der Dämmerung, irgendwann ganz vorne ein Schild auftauchte: „noch 200m“. Wie tröstlich, immerhin waren wir in der letzten Stunde etwa 100m vorangekommen.

Torii, dahinter das Tor zur Tempelanlage

Das Torii, das den Schrein ankündigt, und dahinter das Tor zur Schreinanlage. So ging es geduldig weiter, bis wir es irgendwann hineingeschafft hatten. Im Innern wurden die Besucher gestaffelt zum Schrein vorgelassen (wiederum verbunden mit zum Teil waghalsigen Münzwürfen). Wir ersparten uns das Gedränge dieses Mal; es gab sonst genug zu sehen: junge Frauen in prachtvollen Kimonos, zahlreiche Holzstände mit an Fäden geknoteten Unglücks-omikuchi, und die traditionellen geschmückten Neujahrs-Pfeile, die man kaufen kann. Wir waren alle beeindruckt von diesem Massenandrang, ich besonders, da ich diese Anlage sonst als Oase der Ruhe kenne. So fanden wir, als wir uns auf den Weg nach Harajuku machten, dass es das lange Warten wert war. In Harajuku spazierten wir noch durch die quirlige Takeshita-Dôri, und fanden die Strassen noch immer weihnachtlich beleuchtet vor.

______________________________________________

MEHR DAZU


1 Comment

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

*

*

*