«Für mich vergewaltigst du indiesem Moment eine Frau»

Bild von Liv Antonsen

Als sich Grazia mit 18 Jahren bei einer Dating-Plattform angemeldet hat, suchte sie das, was sich die meisten von uns wünschen. Gefunden hat sie aber einen Loverboy, eine Masche in die unfreiwillige Sexarbeit. Die Geschichte von Grazia, ihrem Weg in die Prostitution und dem langen Kampf hinaus. Ein Portrait.

Ein sonniger Morgen in Zürich. Wir sind für ein Interview bei einer Ausstiegshilfe an der Langstrasse verabredet. Was wir in den nächsten zweieinhalb Stunden hören, werden wir nie vergessen. Es ist die Lebensgeschichte einer jungen Frau, jünger als wir, eine deutsche Staatsbürgerin, Mutter und ehemalige Sexarbeiterin. Kurz nach der Volljährigkeit wurde sie in die Prostitution geführt, arbeitete in Deutschland und der Schweiz, er- und überlebte das Milieu. Drei Jahre später sitzt sie mit ihrem Sohn auf dem Sofa in Zürich und erzählt uns ihre Geschichte. «Ihr dürft mich alles fragen», meint sie mit sicherer Stimme. Neben ihr ist Jael, eine Mitarbeiterin bei der Ausstiegsorganisation Heartwings und Begleiterin auf Grazias Weg. Es ist ein Einzelschicksal, welches in ähnlicher Form viele Frauen teilen. Doch alles auf Anfang, wo Grazias Geschichte in die Prostitution begann. Ein Portrait über eine Frau, welche über das spricht, was sonst verborgen bleibt

Das grosse Glück des schüchternen Mädchens
«Vorab muss ich sagen, ich habe ganz wenig Liebe von Zuhause bekommen», leitet sie ein und erzählt von einer Kindheit im Plattenbau und Mobbing in der Schule. Als unbeliebtes Mädchen mit wenigen Rückhalt von Zuhause war sie unsicher und schüchtern. Gleichzeitig war während der Pubertät die Neugierde gross und Grazia offen. Mit 15 hatte sie ihren ersten One-Night-Stand, sammelte Erfahrungen. Rund drei Jahre später, gerade volljährig, meldet sie sich dann bei einer DatingPlattform an – und scheint endlich Glück zu haben. It’s a Match! Der besagte Mann erfüllt alle Träume: Er ist gross, kräftig, breit gebaut und erfolgreich. Es ist eine bis dahin noch unbekannte Welt für sie, eine mit teuren Autos, den neusten iPhones und Markenschuhen. Dabei ist nicht nur der Erfolg ein Kontrast zu ihrem bisherigen Leben, sondern auch der Umgang. Plötzlich wird sie gesehen, geliebt und begehrt. Denkt sie zumindest. Denn dieser Mann ist ein Loverboy.

Loverboy ist eine Masche, bei welcher ein zumeist junger Mann einer oftmals jüngeren Frau Liebe vortäuscht. Ziel ist es, die Frau emotional zu binden und gleichzeitig von Drittpersonen zu distanzieren.
Sobald die Frau genügend abhängig ist, wird sie in die Prostitution geführt oder gezwungen. Effektiv
sind Loverboys Zuhälter oder Menschenhändler, welche über Mittel der emotionalen Manipulation
Frauen ausbeuten.

Ein unschuldiger Job für gutes Geld
Mit einem vagen Versprechen einer lukrativen Arbeitsstelle vermittelt der vermeintliche Freund bereits zwei Wochen nach dem Kennenlernen einen Job. Denn der Loverboy weiss, dass Grazia finanziell benachteiligt aufgewachsen ist. Doch während sie noch von einem Fotoshooting oder nicht-sexuellem Escort ausgeht, war ihr Weg in die Prostitution bereits im Gange. Der Freund liefert sie vor einem Laufhaus ab, eine andere Frau übernimmt und führte sie in ein Zimmer. Umziehen, eine Liste mit Preisen merken und lächelnd hinsetzen. Noch bevor sie realisieren kann, was gerade passiert, ist es geschehen.
Auch heute noch kann sie sich gut an ihren ersten Kunden erinnern. Einen rund 50 Jahre alter Mann, vernarbtes Gesicht. Sowas vergisst man nicht. Eine viertel Stunde und fünfzig Euro später ist es vorbei. Und Grazia kann es kaum fassen. Fünfzig Euro in fünfzehn Minuten. Wo bekommt man das sonst
her. Sie denkt an ihre Familie. Vielleicht kann sie damit etwas verändern, bringt das grosse Geld. Und ist überwältigt und wie benebelt von dieser Situation.

6‘000 Euro in zwei Wochen
In den kommenden Tagen holt ihr Loverboy sie jeden Tag ab, redet es schön, spricht viel mit ihr. «Weiss der überhaupt, was ich gerade mache?», fragt sie sich und hat sogar ein schlechtes Gewissen. Doch auch diese Freude bleibt kurz und er beginnt Druck aufzubauen. Zwei Wochen später hat sie bereits 6‘000 Euro
verdient. Als er schreibt, sie solle ihr ganzes Geld mitnehmen und zum Hauseingang kommen, versteht sie es nicht. Verliebt wie sie ist, folgt sie seinen Anweisungen und steigt mit dem Geld in sein Auto. Während sie gemeinsam dort sitzen, packt er ihr Portemonnaie und nimmt sich alles heraus. «Das hast du gut gemacht», meint er – und Grazia ist geschockt. Perplex durch diesen Moment kann sie nichts entgegnen. Sie fahren weiter zu Aldi, kaufen ein – mit ihrem Geld – und füllen damit den einen Kühlschrank, den alle 20 Frauen im Laufhaus gemeinsam verwenden.

Zurück im Haus kann sie es noch immer nicht fassen und spricht mit einer Arbeitskollegin. Auf die Frage, ob das normal sei, meint diese: «Natürlich. Er ist dein Mann, dein Zuhälter, dein Beschützer, dein Alles». Denn hinter jeder Frau steckt ein Mann. Es ist eine Weisheit, die Grazia noch einige Male so erleben wird.
Während sie zunehmend unglücklich über die Situation wird, baut ihr Loverboy zunehmend Druck auf und gibt den Ton an. Er meint, er sei bei den Hells Angels, droht mit Gewalt und damit, dass er wisse, wo ihre Familie wohne. Gerade als die Situation immer unerträglicher wird, kommt die Pandemie. Covid ist da, alles muss schliessen und Grazia wünscht sich nur eines: Zeit mit ihrem Freund zu verbringen. Denn während er Grazia ausbeutet, manipuliert er weiterhin, um das Bild der vermeintlichen Liebe. Das Glück im Unglück

Weil das Laufhaus ebenfalls schliessen muss, möchte er, dass sie sich privat mit Kunden trifft und auf ‘Städtereisen’ geht. Doch ohne Schutz riskiert sie nicht nur eine Ansteckung mit dem damals noch kaum erforschten Coronavirus, sondern auch ihre eigene Sicherheit. Egal ob Outdoor, in Hotels, zu privaten Wohnungen oder im Auto – im Fall einer Vergewaltigung oder anderen Formen der Gewalt hat sie keine Möglichkeit, Hilfe zu bekommen. Zudem macht sie sich mit der Umgehung des Verbots strafbar. Dennoch besteht der Loverboy darauf, dass sie weiterarbeiten soll. Sie nutzt indes die vermeidliche Schwäche im neuen System und lehnt nun die Freier heimlich ab, sagt ihrem Loverboy, es gäbe keine Kunden. Doch dieser wird aggressiver und fordert mindestens zwei bis dreitausend Euro pro Woche – sonst wird der freie Tag mit ihm gestrichen und sie muss sich auch an diesem prostituieren. Die Situation scheint ausweglos. Grazia arbeitet und lebt in kalten Zimmern mit Schimmel an den Wänden und ohne Unterstützung. Auch sonst sind die Bedingungen unmenschlich. Sie steht zwischen sieben und acht Uhr auf, arbeitet den ganzen Tag, ist erst zwischen drei und fünf Uhr nachts wieder fertig. Geschlafen wird kaum, sie ist ständig auf Abruf, immer bereit, den nächsten Kunden zu empfangen.

Sex, Gewalt und Abtreibungen
Ist man einmal im System «Loverboy» drinnen, führt kaum mehr ein Weg wieder heraus. Eine Spirale aus Druck, Gewalt und Abhängigkeit macht die Prostitution zum Alltag. Man darf nicht vergessen, wie die Zuhälter genau wissen, was sie tun. Der Mix aus emotionaler Abhängigkeit, Androhungen von Gewalt gegenüber den Prostituierten und ihren Familien sowie perfide Systeme mit Schulden und Abgaben führen dazu, dass ein Ausstieg oder Widerspruch kaum möglich ist. Dies gilt für fast alle Frauen und Forderungen. Grazia erzählt von einer Arbeitskollegin aus einem der Laufhäuser. Eines Tages, sie kommt
gerade in das Haus zurück, hält die Kollegin ihr ein Blutbündel entgegen. Es ist ein Embryo. Es sei das Kind des Zuhälters meint die Frau. Dieser hat sie wegen der ungewollten Schwangerschaft verprügelt, die Abtreibung verlangt. Daher schluckte sie Abtreibungstabletten, schied den Embryo aus und spült ihn nun über die Toilette hinunter. Ohne eigenständig darüber nachdenken zu dürfen. Widerstandslos. Auch Grazias Zuhälter schreckt nicht vor Gewalt zurück, es bleibt nicht bei den Drohungen. Eines Tages schlägt dieser sie, verletzt sie am Bein mit einer Scherbe, verprügelt sie. Er, ein fast zwei Meter grosser, durchtrainierter Mann. Sie eine schmale Frau. Wehren kann sie sich nicht, Hilfe holen genau so wenig. Irgendwo in diesem Gewaltakt schwenkt er um, es kommt zum Geschlechtsverkehr. Er will Sex, sie nicht. Sie gibt keinen Konsens, sie will es nicht. Es ist eine Vergewaltigung. Für Grazia ist diese Erfahrung der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Gewalt und der Missbrauch werden zu viel,
der Wille ist nicht mehr da. An diesem Abend trinkt sie, nimmt viele Tabletten, will sich das Leben nehmen, um das nicht mehr ertragen zu müssen. Sie will, dass es aufhört. Es muss enden.

Das Erwachen
Am nächsten Morgen wacht sie auf. Sie spürt den letzten Abend, aber sie lebt noch, liegt in ihrem Zimmer. Sie schaut auf ihr Handy. Eine Arbeitsfreundin hat ihr geschrieben. Komm doch in die Schweiz, hier ist alles noch offen, hier kannst du gutes Geld machen, meint sie. Für Grazia ist das ein Zeichen. Es geht nicht um die Arbeit, nein, es geht um die Chance. Um in die Schweiz zu kommen, muss ihr der
Loverboy ihre Papiere zurückgeben – wodurch sie die Möglichkeit hat, von allem wegzukommen, zu verschwinden, neu anzufangen.

Für Grazia ist klar, das muss funktionieren. Sie erzählt ihrem ‘Freund’ davon, macht gute Miene zu bösem Spiel. Auch er lässt sich vom gestrigen Tag nichts anmerken, willigt ein. Sein Plan ist konkret: Sie kann drei Monate steuerfrei und ohne Anmeldung in der Schweiz arbeiten. Nach sechs Wochen komme er vorbei und hole das Geld. Nach weiteren sechs Wochen soll sie zurückkommen. Dabei weiss er bestens über Anmeldepflichten und das Arbeitsrecht Bescheid. «Woher weiss er das?», fragt sich Grazia und ist sich mittlerweile sicher, den wahren Mann hinter ihrem Freund endlich zu erkennen. Hier schlägt der Loverboy auch vor, dass sie helfen könne, eine Nebenfrau anzuwerben. Sie sei natürlich nach wie vor die Hauptfrau. Aber die Nebenfrau bringt zusätzliches Geld. Grazia möchte aber nicht. Egal wie sehr sie zu Beginn in ihn verliebt war. Sowas hat nichts mit Liebe zu tun.

Der unsichtbare Menschenhandel
Damit der Loverboy auch weiterhin die Kontrolle behält, hat sich dieser etwas ausgedacht. Er nimmt ein kleines Zweithandy hervor, kein Smartphone, nur ein paar Knöpfe und ein Display. Die Abmachung ist simpel: Schickt er ein bestimmtes Emoji über Snapchat, wird über das andere Handy telefoniert. So verschwindet die Spur auf Snapchat, die Wegwerfhandys wiederum verschleiern den Rest. Dieser Mechanismus ist wichtig: Zum einen behält er so die Kontrolle über Grazia, zum anderen kann ihm diese kaum nachgewiesen werden. Denn um den hier eigentlich stattfindenden Menschenhandel in der Schweiz anzuzeigen, müsste Grazia nicht nur Beweise vorlegen, sondern auch nachweisen, dass dieser in der Schweiz passiert ist. Denn die Schweiz verfolgt nur, was in der Schweiz passiert und belegt werden kann.

Zwischen Geld und Hoffnung
Als Grazia in den Zug steigt, überkommt sie ein besonderes Gefühl. Das Gefühl, einen Menschen soeben zum letzten Mal gesehen zu haben. Und die Hoffnung, endlich wieder die eigene Freiheit zurückzubekommen. Einige Stunden später kommt sie in Zürich an. Für die Anreise hat sie CHF 300 und das Nötigste mitbekommen, sonst nichts. Für das Zimmer leicht ausserhalb von Zürich wiederum wird
eine Miete von CHF 220 fällig, welche sie zu zahlen hat. Pro Tag. Das ergibt eine Monatsmiete von 6‘600 für ein einzelnes, heruntergekommenes Zimmer ausserhalb von Zürich. Ein Wucherpreis. Von nun an muss sie dieses Geld einnehmen, Tag für Tag, auch für freie Tage oder bei Krankheit. Andernfalls muss sie
Schuldscheine unterschreiben und darf nicht weg, bis sie diese beglichen hat. Dadurch wird eine Flucht auch hier ab dem ersten Tag schwierig.

Die initiale Hoffnung einer Flucht verfliegt schnell, denn das System in der Schweiz hält Frauen genauso klein. So beginnt nach einiger Zeit eine weitere Odyssee. Sie kehrt nach Deutschland zurück, versucht dort, aus dem Laufhaus zu fliehen. Doch auch dieser Versuch scheitert, denn ihr Loverboy kennt die
Wohnung ihrer Eltern, Grazia selbst fühlt sich nicht mehr sicher und zuhause bedroht. Mangels Alternativen reist sie erneut in die Schweiz, diesmal ohne Loverboy, und taucht hier unter.

Organisierter Missbrauch und miese Maschen
Um in der Schweiz über die Runden zu kommen, fällt sie zurück in die Prostitution. Auch wenn der Loverboy nun nicht mehr über Grazia verfügt, kann sie sich den kontrollierenden Männern nicht entziehen. Einen eigenen Arbeitsort und Wohnung als Prostituierte zu erhalten ist faktisch unmöglich. Das verhindert ein Netz an Abhängigkeiten, wie Grazia später noch erklärt. Stattdessen gibt es alternative Systeme. Entweder man bezahlt Wuchermieten im Tagessatz, oder man gibt einen Anteil am eigenen Verdienst den Inhabern der Lokalität ab. Dieser liegt häufig bei 50% der Einnahmen und steht somit auch in keinem Verhältnis. Lehnt eine Frau in solchen Häusern die von den Freiern gewünschten Extras ab, beispielsweise zusätzliche Sexualpraktiken wie das Blasen ohne Kondom, muss die Prostituierte teilweise sogar 70% des Geldes abgeben. Die Strukturen sind perfide und durchdacht, jeder Schritt wird kontrolliert, damit die Frauen kein Geld von den Zuhältern und Clubbesitzern unterschlagen können. Grazia arbeitet über ihre gesamte Karriere in acht verschiedenen Etablissements in der Schweiz. Keines davon hat sie fair behandelt.

Wer sind die Männer?
Doch wer sind die Männer überhaupt, welche sich Sex für Geld kaufen? Sie kommen aus allen Schichten, quer durch die Berufs- und Altersgruppen, sagt Grazia. Es sind sowohl Ehemänner wie Alleinstehende, gepflegte wie ungepflegte, im Beruf erfolgreiche und gescheiterte. Grazia erzählt, wie man mit der Zeit ein Auge für die Männer entwickelt. Man sitzt im Tram und studiert die Gesichter der Männer, fragt sich, auf welche Fetische sie wohl stehen. Grazias Erfahrung nach zieht jede Frau einen anderen Typ Mann mit einem anderen Fetisch an. Bei manchen sind es Füsse, bei anderen Domina-Spiele oder Analsex mit einem Riesendildo – das alles hat sie schon erlebt. Bei ihr war es aber ein anderer Typ Mann, den sie angezogen hat. «Ich war zum Beispiel eine Frau, die die ganz Alten angezogen hat, die etwas mehr Geld hatten, aber
darauf standen, dass ich eine Vierjährige spiele». Wenn sie heute über diese Fetische redet, stolpert sie nicht. Sie spricht bestimmt, erzählt aus der Realität. Sie fragt sich aber auch, was sonst noch hinter den Menschen steckt, welche ihre pädophile Neigung bei ihr ausgelebt haben.

Der Weg in die Freiheit
Auch während ihrem zweiten Aufenthalt in der Schweiz gibt es kaum Freunde. Diese gibt es im Milieu nicht wirklich, denn dort dreht sich alles nur um Geld, den Zuhälter und um das eigene Überleben. Eine der wenigen Ausnahmen ist ein Rocker, der in Grazia nicht nur die Prostituierte sieht, sondern die Frau, die sie eigentlich ist. Er bestärkt sie darin, dass dieser Lebensweg nicht ihre Berufung ist, hilft dabei, die Schulden bei der ersten Unterkunft abzuzahlen. Als ihr letzter Club sie dann aber wegen eines positiven Coronatests rausschmeisst, ist sie für einige Tage obdachlos in Zürich. In dieser Zeit kommt sie in den Kontakt mit verschiedenen Organisationen und entscheidet sich für das staatliche Schutzhaus. In diesem Schutzhaus bleibt sie auch einige Tage. Doch schnell wird klar, dass dieses nicht weiterhelfen kann. Denn das Rechtssystem führt dazu, dass die vom Schutzhaus geforderte Anzeige ihr selbst mehr schaden würde, während die Täter kaum belangt werden können. Als sie ohne Perspektive und Kontakte dasteht,
meldet sich eine private Ausstiegshilfe erneut bei ihr. Der Verein Heartwings bietet an, dass Grazia in ihrem Kleiderladen etwas aussuchen kann – und baut damit die Beziehung auf, welche Grazia schlussendlich aus dem System führen wird.

Während Grazia von einer Zeit voller Lügen, Missbrauch und Ausnutzung geprägt ist, kommen ihr bei Heartwings erfahrene Helferinnen entgegen. Die Frauen kennen das Milieu, verstehen die Sorgen und hören zu. Unkompliziert helfen sie ihr, das Abhängigkeitsdreieck zu durchbrechen: Denn für einen Neustart braucht es eine Wohnung, für eine Wohnung braucht es ein Bankkonto mit Geld und einen
Job, für einen Job eine Wohnung und ein Konto und für ein Konto eine Wohnung und Geld durch einen Job. Hier springt Heartwings ein, liefert einen Vertrauensvorschuss, organisiert mit. Sie begleiten Behördengänge, vermitteln Hilfsangebote – und unterstützen die Frauen dabei, sich von den Erfahrungen zu heilen, wie sie sagen. Heilen heisst nicht verdrängen, sondern in erster Linie Platz zu schaffen, die
Vergangenheit zu verarbeiten und die eigene Zukunft aufzubauen. Wer teilweise jahrelang im System Prostitution gefangen war, weiss manchmal nicht einmal, was man sich überhaupt für die Zukunft wünscht. Auch für Grazia beginnt der Weg hinaus aus der Welt, in die sie ohne Einwilligung geführt wurde.

Geprägt fürs Leben
Nicht mehr als Prostituierte zu arbeiten, beendet das Thema aber nicht. «Ich kann damit nicht abschliessen. Es geht gar nicht. Es ist ein Teil von meinem Leben», sagt sie noch heute.  Es sind keine Worte der Resignation, sondern solche der Anerkennung. Diese Erfahrungen können nicht einfach zur Seite geschoben werden, sie sind ein Teil ihres Lebens, sie haben sie geprägt und sie werden sie für immer prägen. So stösst sie immer wieder auf Grenzen, als sie versucht, das alte Leben hinter sich zu lassen. Sie beginnt eine Lehre in der Schweiz und geht zur Schule. Doch ihre gleichaltrigen Mitschüler*innen hören Songs mit Zeilen wie «Ich schick’ die Nutte anschaffen.» Während die Kamerad*innen diese Worte ‘feiern’, denkt sie an ihre eigene Vergangenheit. Sie mögen gleich alt sein wie Grazia, aber ihre Erfahrungen stehen im Gegensatz. Man macht sich lustig, besucht die öffentlichen Sexboxen zum Sightseeing, reisst Sprüche. Auf der anderen Seite steht Grazia, die ihre eigene Vergangenheit leugnet, um überhaupt ihre Ausbildung zu bekommen. Denn wer «Prostituierte» im Lebenslauf hat, bekommt kaum eine Stelle. Generell sind es die alltäglichen Fragen, welche einem mit der Vergangenheit konfrontieren. Was antwortet man, wenn man gefragt wird, warum man in die Schweiz gekommen ist? «Weil ich von meinem Zuhälter geschickt wurde», ist nun mal nicht die Antwort, die man beim lockeren Kennenlernen gibt. So
ziehen sich die Implikationen quer durch das eigene Leben, egal ob im Beruf, mit Freunden oder in künftigen Beziehungen.

Die Heilung
Ist man erst einmal aus den Strukturen des Milieus draussen, folgt die Frage, wie man sich von solchen Erlebnissen erholt. Denn eine Wohnung und ein Job lassen einem den ganzen Rest nicht vergessen. Bei Grazia ist es ein mehrstufiger Weg. Es braucht Zeit, um wieder in geregelten Tagesstrukturen leben zu
können und behördliche Themen abzuarbeiten. Fast wichtiger ist aber die psychologische Ebene. Als Prostituierte zu arbeiten ist von kaum einem Mädchen der Lebenstraum. Wovon träumt man also? Was will man erreichen? Und wie will man mit der eigenen Vergangenheit umgehen? Heartwings unterstützt Grazia auf drei Ebenen. Die erste ist das zuvor genannte Durchbrechen des Job-Bank-Wohnung-Dilemmas, welches den eigentlichen Ausstieg überhaupt ermöglicht. Parallel dazu bietet sie Grazia
aber auch die Zeit, zuerst einmal wieder in Strukturen anzukommen und sich mit dem eigenen Leben auseinande usetzen. Für Grazia bedeutet dies beispielsweise, ihre eigene Geschichte aufzuschreiben, ihre Träume zu definieren und aktiv nach vorne zu blicken. Zuletzt bietet der Verein aber das, was eigentlich selbstverständlich sein sollte und doch so oft fehlt: Eine Person zu haben, welche zuhört und einfach einmal glaubt und versteht. So erarbeitet sich Grazia Stück für Stück ihr neues, selbstbestimmtes Leben, in welchem sie für ihre Ziele kämpft.

Der Blick zum alten Leben
Aus der sicheren Distanz blickt Grazia mit einem klaren Blick zurück. In ihrer gesamten Zeit – und somit über diverse Laufhäuser und Clubs hinweg – traf sie keine einzige Frau, welche diesen Job freiwillig gemacht hat. Sie weiss heute aus erster Erfahrung, dass es keine normale Arbeit ist. Wäre es eine, würde einiges anders sein. Warum sonst gibt es keinen Probetag zum ‘Reinschnuppern’ und so viel Nähe zu Kriminellen, Drogen und Gewalt? Generell liegt es nahe: Würde eine Frau effektiv so gerne mit Männern schlafen, beispielsweise weil sie nymphoman ist, kann sie genauso gut in den Club gehen und sich dort
ihre Partner aussuchen. Oder in Bereichen arbeiten, die einem Freiheiten lassen. Wo liegt denn der Vorteil, wenn man Wuchermieten zahlen muss, die Hälfte seiner Einnahmen abzugeben hat und stets Leute mitverdienen, welche Druck gegen einen aufbauen? Solche Systeme entstehen nicht in einem normalen Arbeitsmarkt, sondern nur an Orten mit enormen Machtgefällen. Die Erfahrung zeigt auch: Reinkommen in den Beruf «Prostituierte» ist leicht, rauskommen verdammt schwierig. Entsprechend resümiert Grazia heute mit klaren Worten: Auch wenn es Ausnahmen geben mag, ist es ein Trugschluss zu glauben, dass die Frauen diesen Beruf freiwillig machen würden. Wer mit einer Prostituierten schläft, muss davon ausgehen, dass dies nicht in vollen, freien Zügen geschieht. Entsprechend ist für sie klar: «Für mich vergewaltigst du in diesem Moment eine Frau». Es ist eine harte Aussage. Aber schlussendlich die Konsequenz eines Systems, in welches man zwar schnell reinkommt, aus dem der Ausstieg aber kaum ohne externe Hilfe möglich ist.

Die Hoffnung und die Zukunft
Heute sieht die Welt aber anders aus. Grazia hat den Ausstieg geschafft, ist endlich frei und es geht ihr gut. Dennoch ist damit das Thema Prostitution für sie nicht beendet. Denn Grazia weiss, was sie aus ihrer Lebenserfahrung machen will: Sie möchte eine Stimme für all diejenigen Frauen sein, welche selbst nicht
für sich einstehen können. Dieses Ziel möchte sie für den weiteren beruflichen Weg mitnehmen. Auch für ihr Privatleben sind ihre Träume und Wünsche klar: «Ganz viel Liebe für meinen Sohn», sagt sie. Er steht an erster Stelle. Denn dieser sollte so aufwachsen, wie es jedes Kind verdient hat. Wichtig ist ihr, die Zukunft positiv zu gestalten. Für ihr Kind, für unterdrückte Frauen und nicht zuletzt für sich selbst.

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