Montag, 6. Februar: Kyoto 1
In Kyoto war es ziemlich kalt, die Temperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt, und wie vorausgesagt fiel heftiger Regen. Aber davon wollten wir uns nicht entmutigen lassen, und so zogen wir los zum ersten Programmpunkt: dem Toji Schrein. Auf dem Schreingelände stehen einige imposante Hallen aus dunklem Holz, die wahrscheinlich auch ohne den stetigen Regen eine schwermütige Atmosphäre ausstrahlen würden. Auch die Pagode ragte fast schon drohend in den verhangenen Himmel. Auf dem Weg zum nächsten Tempel, dem Honganji, liefen wir ein rechtes Stück durch die Strassen Kyotos, und gewannen so einige erste Eindrücke der alten Hauptstadt. Im Gegensatz zu Tokyo ist sie viel flacher (keine Wolkenkratzer), dafür von nahen Bergen (oder Hügeln?) umgeben, die Strassen verlaufen oft schachbrettartig, und viele Gebäude sind recht alt, aber nicht auf eine verfallene, sondern eher charmante Art. Mir gefiel Kyoto auf Anhieb! Unterwegs hatte sogar der Regen aufgehört, und überraschte uns fortan nur noch ab und zu mit längeren Schauern. Der Honganji beeindruckte vor allem durch seine riesigen Gebäude.
Auf dem Weg zum Nijo Schloss liefen wir einen kleinen Umweg und fanden eine überdachte Marktstrasse, sowie einen hübschen kleinen Garten komplett mit Teich, Brücke, Drachenschiff und kleinem Schrein.
Etwas weiter erhoben sich dann die wuchtigen hohen Steinmauern des Schlosses über einem Wassergraben, ganz ähnlich wie der Kaiserpalast in Tokyo, auch mit vereinzelten Wachtürmen versehen. Innen erstreckt sich ein weitläufiger Garten, der sogar im Winter wunderschön ist, und man kann auf die Mauer steigen, von wo aus man einen tollen Ausblick über das riesige Schlossgelände und die Stadt hat.
Das Schloss selbst besteht aus drei grossen, verbundenen Gebäuden, durch die man, nachdem man seine Schuhe gegen die obligaten Pantoffeln ausgetauscht hat, spazieren konnte. Fast alle Räume waren offen und einsehbar, wenn auch etwas dunkel, da alle Aussenwände, bestehend aus den typischen von Holz eingefassten japanischen Papierschiebetüren, zugezogen waren um die bemalten Innenräume zu schützen. Diese waren fast schon verschwenderisch, aber sehr stilvoll mit viel Gold- und Grünfarben bemalt. Manche Räume waren sogar mit lebensechten Puppen ausgestattet, die zeigten, was für eine Funktion der Raum hatte (z.B. Empfangsraum für Boten des Kaisers). Das Schloss diente übrigens als Residenz für die Shogune (eine Art Fürsten) der Tokugawa Zeit.
Da wir uns am Abend mit Frau Yamane und ihrem Mann nahe Nara verabredet hatten, war der folgende Programmpunkt zugleich der letzte für diesen Tag. Es war ohnehin schon mitten im Nachmittag. Per Bus fuhren wir in den Nordwesten Kyotos, zum Kinkakuji, im Westen besser bekannt als der goldene Pavillon (kin= Gold). Sogar im trüben Licht des wolkenverhangenen Himmels war der tatsächlich goldenleuchtende Bau ein prächtiger Anblick, vor allem mit der Wasserspiegelung im ihn umgebenden Teich.
Auch das restliche Schreinareal ist sehenswert, mit viel Pflanzenwerk, das wegen der vielen Regenfälle fast schon knallig grün schien, und eine herrlich vitale Atmosphäre schuf. Mit dem Bus gings zurück zum Hauptbahnhof, und von dort mit etwas Suchen (das Bahnnetz ist sehr verwirrend, weil im Hauptbahnhof nebst der U-Bahn auch die privaten und staatlichen Zuggesellschaften untergebracht sind) per Zug nach Saidaiji nahe Nara. Ich kenne in der Gegend natürlich keine einzige Station, deshalb dauerte das Ausfindigmachen der richtigen Linie etwas länger. Sowieso ist das Billet-System in Japan komplett anders als in der Schweiz, aber ich verkneife mir eine ausführliche Erklärung desselben, will euch ja nicht langweilen (obwohl es meiner Meinung nach absolut genial ist; viel effizienter und Schwarzfahren ist praktisch unmöglich). Die richtige Strecke fand ich, aber dummerweise erwischten wir einen Bummelzug und so dauerte es mehr als eine Stunde bis wir am Saidaiji-Bahnhof ankamen, wo uns Yamane’s schon erwarteten. Nur kurz zur Erinnerung: Frau Yamane kam im letzten März mit einigen japanischen Studenten für kurze Zeit nach St. Gallen, und ich und damit auch meine Familie nahmen eine Studentin bei uns auf. In den letzten Monaten an der Hosei Universität habe ich ihr mehrmals bei Veranstaltungen der Fakultät, der sie vorsteht beigewohnt, worüber sie sehr dankbar war. Bei einem gemeinsamen Abendessen nach einer solchen Veranstaltung hat sie mich und meinen Vater eingeladen, während unserer Reisezeit in ihrer Zweitwohnung in der Nähe von Nara zu logieren. Nara, Kyoto und Osaka bilden eine Art Dreieck, so dass dies ein idealer Ausgangsort für Ausflüge in die jeweils ca. 1 h entfernten Grossstädte ist.
Damit ihr euch das besser vorstellen könnt, folgen zwei Kartenausschnitte; einmal etwas näher:
Als wir sie an diesem Montagabend trafen, fuhren wir direkt in ein Restaurant zum Abendessen. Und was für ein Essen das war. Eine grossartige Abfolge von Köstlichkeiten der japanischen Küche. Mein persönliches Highlight: Fugu, der berühmt-berüchtigte hochgiftige Kugelfisch, den nur lizenzierte Köche zubereiten dürfen. Diese Tatsache führt allerdings auch dazu, dass man null Nervenkitzel verspürt beim Essen. Schmecken tut er allerdings sehr gut, wie auch alles andere was uns vorgesetzt wurde. Das Gespräch mit Frau Yamane und ihrem Mann war, wenn überhaupt möglich, noch interessanter als das Essen. Sie erzählten uns viel über die japanische Kultur, und besonders mein Vater genoss wohl ihr einwandfreies Deutsch. Nach dem Essen fuhren sie uns in die Wohnung, überreichten uns zwei Schlüssel, zeigten uns die Räume, gaben uns eine kurze Einführung in die moderne Wohnungs-Technologie und verabschiedeten sich bescheiden, nicht ohne uns bereits für den nächsten Tag nochmal zum Abendessen eingeladen zu haben. Ob so viel grosszügiger Gastfreundschaft und Wohlwollen war uns enorm verlegen zumute, und wir waren mehr als froh, hatten wir im Voraus eine ordentliche Portion Geschenke zusammengestellt, die tatsächlich den halben Koffer meines Vaters füllten. Ich hatte mich in früheren Gesprächen mit Frau Yamane unauffällig nach ihren europäischen Vorlieben erkundigt, und so waren wir uns sicher, ihren Geschmack zu treffen und sie doch ein wenig zu überraschen.
Dienstag, 7. Februar: Osaka
Da draussen leichter Regen fiel, griffen wir uns relativ früh am Morgen die Schirme und verliessen die Wohnung im fünften Stock. Unten entschieden wir uns auf der Suche nach der Bushaltestelle für links, und fanden sie sogleich. Leider vergassen wir ab der Freude, sie überhaupt gefunden zu haben völlig, uns den Namen der Station zu merken, was uns auf der Heimreise vor ein kleines Problem stellen sollte. Im Gakkuenmae Bahnhof angekommen war es leicht, den Kintetsu Express nach Ikoma zu nehmen. Dort stiegen wir um auf die Kintetsu Keihanna Linie nach Nagata (Osaka), und von dort ging es weiter mit der Chuo U-Bahn von Anfang bis fast Ende, Osakako. Unser Ziel war nämlich das Osaka Kaiyukan Aquarium.
Im Aquarium selbst waren wir zutiefst beeindruckt von der Vielfalt an Meereslebewesen, die wir zu sehen bekamen. Nebst Säugetieren wie Ottern und Seehunden gab es unzählige Fischarten in allerlei Farben und Formen, Haie (kleine und grosse, gepunktete und gestreifte, Fleischfresser (wie den Hammerhai) und Vegetarier (wie den riesigen Walhai)). Besonders elegant fanden wir die Stachelrochen und den Manta, während uns Tiefseekreaturen wie die Seespinnen ziemlich ekelten.
Ich war natürlich kaum vom Becken mit den Delfinen wegzubringen; noch nie war ich meinen Kindheits-Lieblingstieren so nahe gewesen. Eine gehörige Portion Frust brachten die zahllosen Versuche, scharfe Fotos von den Wasserlebewesen zu machen – wir wendeten verschiedenste Methoden an, scheiterten aber stets. Immerhin klappte das Filmen dafür ziemlich gut.
Danach standen noch zwei weitere Programmpunkte an. Nur zwei, denkt ihr vielleicht (ich zuerst auch), aber diese sollten sich als knifflig und zeitraubend herausstellen. Zuerst nahmen wir zweimal die U-Bahn nach Umeda, um uns das Sky Building anzusehen, ein riesiger Rahmen-förmiger Gebäudekomplex.
Im Querbalken in 170m Höhe gibt es eine runde Aussichtsplattform. Als wir uns nach dem Weg nach oben erkundeten, kam jedoch die vernichtende Antwort: Heute geschlossen. Enttäuscht zogen wir wieder ab. Allerdings wirkt das Umeda Sky Building auch von unten äusserst imposant und war auf jeden Fall den Abstecher wert. Zum Schluss kam noch der Höhepunkt, zumindest für mich persönlich: das Osaka-jo (Osaka-Schloss). Dank der Hilfe eines Bahnhofangestellten fanden wir auf Anhieb die nächstgelegene Station inklusive Exit, und bald darauf standen wir vor der wuchtigen Burgmauer. Einmal eingetreten gab es einen zweiten steinernen Ring zu durchqueren, und dann thronte vor uns das herrliche Schloss, das in seiner Geschichte ganze drei mal abgebrannt (Brandstiftung, Blitzeinschlag, Luftangriff) und wieder aufgebaut wurde.
Per Lift und Treppe erklimmt man die Höhen und findet sich schliesslich auf einer Aussichtsplattform wieder, von der man einen herrlichen Rundumblick über Osaka hat. Die Stadt ist meiner Meinung nach wenig ästhetisch (nur einige wenige architektonische Schönheiten zieren die Skyline), aber dennoch beeindruckend aufgrund ihres schieren Ausmasses.
Zurück zuhause wollten wir uns für das bevorstehende Abendessen mit Yamane’s frisch machen, mussten uns aber mit einer limitierten Prozedur zufriedengeben, weil wir nicht herausfinden konnten, wie man warmes Wasser laufen lässt. Bei späterem Nachfragen kam heraus, dass wir, in der guten Absicht, Strom zu sparen, offenbar zusammen mit den Lichtschaltern den Wärmeschalter (für Wasser und Klimaanlage) ausgeschaltet hatten. Wie dem auch sei, wir trafen uns jedenfalls um knapp sieben Uhr draussen mit Yamane’s. Per Auto fuhren wir in einer geraden Linie nach Nara, in ein kleines Restaurant („Edogawa“, wie der Stadtteil in Tokyo in dem ich wohnte) in der Altstadt. Es war unbeschreiblich, aber ich will es trotzdem versuchen: Die Inneneinrichtung war im japanischen Stil, mit viel dunklem Holz, Schiebetüren, und Tatamimatten am Boden. Wir sassen an einem niederen Tisch; die Beine konnten wir aber glücklicherweise in einer Vertiefung darunter bequem verstauen – auf einer Wärmeplatte, die uns während des ganzen Essens die Füsse wärmte! Im Hintergrund lief ‚traditionelle japanische Musik, in diesem Fall das extrem entspannte Geklimper eines japanischen Saiteninstruments. Mein Vater und ich sassen auf der ‚guten‘ Seite des Tisches, von wo aus man einen kleinen Garten im Innenhof des Hauses sehen konnte. Einfach grossartig.
Kaum hatten wir uns gesetzt, brachte uns die freundliche Bedienung bereits die Vorspeise: Fischniere, ein Schälchen grünes eingelegtes Gemüse, fünf Streifen rohen Fisch mit Sojasauce, und einigen Wasabi-Blättern (die wirklich nach Meerrettich schmeckten). Frau Yamane erklärte uns, dass Meerrettich in nur ganz wenigen Gewässern (und zwar nicht salzigen) wächst. Zu trinken erhielten wir ein Nama Bier, das gemäss Frau Yamane hervorragend zu dem folgenden Aal-Gericht passe; und so war es auch. Aal (unagi) ist ziemlich fettig, aber die uns servierte Tokyoter Variante wird erst gedünstet und dann zubereitet, und ist damit etwas gesünder. Mit einem winzigen Holzlöffelchen streuten wir alle ein wenig japanischen grünen Pfeffer über die zarten Stückchen, gossen dazu noch etwas Spezial-Sojasauce (offenbar 100 Jahre alt) darüber und genossen das Resultat zusammen mit Rettich und dem zu einer orangen Kugel geformten Nektar einer Frucht. Bei Gang Nummer 3 war eine Platte Tenpura aus Shrimp, Fisch und Gemüse und danach folgte eine besondere lokale Spezialität: Hühnchen (Frau Yamane wählte mit Bedacht Huhn, nicht Schwein, weil der Aal bereits etwas fettig war), dazu verschiedene Wintergemüse (Rettich (radish), Schwarzwurzel, Blumenkohl, japanische Kartoffel und japanische Karotte, die einen dunklen, rotbraunen Farbton und intensiven, herrlichen Geschmack aufwies). Passend dazu wurde uns kalter Sake aus Nara serviert; Herr Yamane erzählte uns, dass der erste Sake in Nara gebraut wurde. Frau Yamane fügte hinzu, dass der uns servierte Reiswein zu 100% aus Reis bestehe; leider würden lokale Produktionen oft mit anderem Alkohol gestreckt. Eine Feinheit, die wir unwissenden Ausländer bestimmt niemals bemerken würden. Es folgte das Hauptgericht, Aal auf Reis, wiederum mit grünem Pfeffer. Dazu ein Schälchen klare Suppe mit einem Häppchen Aalniere, sowie ein Plättchen eingelegtes Gemüse (ich weiss leider den Namen nicht mehr, irgendein –zuki, jedenfalls typisch für Nara). Abgerundet wurde die Mahlzeit mit zwei Schnitzen geschältem Apfel. Jede Köstlichkeit wurde in einem kunstvollen Schälchen, Schüsselchen oder sogar Holzquader präsentiert, hübsch angerichtet, und damit ein Schmaus nicht nur für den Gaumen sondern auch fürs Auge. Ja, wieder einmal passte einfach alles: stimmungsvolle traditionell japanische Atmosphäre, ein köstliches Mahl, und natürlich die herrlich unterhaltsame Gesellschaft der Yamaness, die uns mit einzigartigem Wissen über Japan bereicherten und niemals müde wurden, uns jede einzelne vorgebrachte Speise zu erklären. Wir wurden wirklich nach allen Regeln der Kunst verwöhnt. Es macht mich äusserst verlegen, soviel Wohlwollen zu empfangen, wo ich doch nichts getan habe, um es mir zu verdienen. Doch des Guten noch nicht genug, luden uns Herr und Frau Yamane danach noch zu sich in ihre Erstwohnung (nur fünf Gehminuten von der Zweitwohnung die wir gegenwärtig belegen entfernt) zu Kaffee, Tee und Dessert ein. Letzeres war eine Art Erdbeer-Roulade, die man mit in der Verpackung integrierten Fäden in gleichmässige Portionen zerteilen konnte. Wie originell. Wiederum drehte sich unser Gespräch oft um Vergleiche zwischen unseren beiden Kulturen, und vor allem Besonderheiten des japanischen Lebensstils. Nachdem wir auch noch Früchte und Setsubon-Bohnen verspiesen hatten, präsentierte uns Frau Yamane noch einige Geschenke zum Mitnehmen: japanischer Reis für Sushi, sowie verschiedene Beilagen zum Mitkochen, darunter sogar Aal. Auch ein deutsches Brot war dabei, und eine Fuku-Schachtel mit Setsubon-Bohnen fürs Glück. Man darf sie nicht kippen, sonst bringt es Unglück, und wir werden sie mit viel Vorsicht im Handgepäck nach Hause bringen. Von den Bohnen soll man eine dem Alter entsprechende Menge essen. Traditionellerweise wirft man zum Setsubon Fest die Bohnen nach draussen (um die oni aus dem Haus zu vertreiben) und innen (um das Glück hereinzulocken).
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