Mittwoch, 8. Februar: Kyoto 2
Im japanischen Winter fühlte ich mich bisweilen wie eine Echse, die mit abnehmender Temperatur immer träger wurde. Frühmorgens ist es besonders eisig, und da die Kälte auch von der Klimaanlage nicht wirklich vertrieben wird, hilft nur eine grosszügige Tasse heissen Tees um mich aufzutauen. Pünktlich verliessen wir morgens die Wohnung und begaben uns zur Bushaltestelle. In Gakuemmae stiegen wir in den Zug nach Saidaiji, und von dort nahmen wir dummerweise den Limited Express nach Kyoto. Von dort nahmen wir den Zug nach Fushimi-Inari, um dort den für seine Torii-Gänge berühmten Fushimi-Inari-Schrein zu besichtigen. Kaum aus dem Bahnhof raus markieren bereits ein riesiges rotes Torii und eine Kitsune-Statue den Eingang zum Schrein.
Hinter dem Eingangstor, auf dem Schreingelände, lagen einige prachtvolle Gebäude, alle in weiss-rot, das sich beinahe leuchtend vom dunkel-grau überzogenen Himmel abhob. Hier begann ebenfalls der erste Torii-Weg: Eine Art Durchgang, gebildet aus Tausenden von kleineren Torii die dicht hintereinander aufgebaut sind. Auf der Vorderseite sind sie lediglich mit roter Farbe bestrichen, auf der Rückseite aber sind sie mit schwarzen Kanji bemalt.
Diese Durchgänge zogen sich mit wenigen Unterbrechungen für Gabelungen über eine weitflächige Bergflanke. Oft ging es steile Treppen hoch, und man bewegte sich stetig aufwärts. Einige Male stürmten Jungs in Sportklamotten in beeindruckendem Tempo an uns vorbei; offenbar gehört es hier zum Sportunterricht, regelmässig die Treppen und Durchgänge hoch zu rennen. Als wir oben ankamen fanden wir einige Souvenirläden vor, sowie unzählige Steinblöcke, die wie eine Art Grabmal aussahen, wohl aber eher Betstätten waren, alle geschmückt mit kleinen roten Torii und steinernen Kitsune-Figuren, die rote oder weisse Lätzchen trugen.
Ich erstand ein kleines Torii, den Gedanken an den schwierigen Heimtransport völlig ignorierend (mittlerweile kann ich beruhigen: Es ist heil angekommen). Es gab noch mehr Durchgänge, die sich in die umliegenden Wälder erstreckten, aber in Anbetracht unseres engen Zeitplans begnügten wir uns damit, auf einem anderen Weg wieder nach unten zu gehen. Es fiel übrigens die ganze Zeit über leicht Schnee, was der ohnehin schon mystischen Erfahrung noch einen zusätzlichen Zauber verlieh. Wieder unten gings per Bahn zurück zum Kyoto Hauptbahnhof, und von dort zu Fuss zu unserem nächsten Programmpunkt. Wir würden nun 5 Tempel ablaufen; ein Marsch von ca 10 km. Der erste Tempel hiess Sanjûsangendô; er ist bekannt für seine riesige Gebetshalle, in der tausend Kannon-Statuen stehen.
Draussen befindet sich auch ein hübscher kleiner Teich, und als wir über die Anlage spazierten, zeigte sich das erste Mal seit wir Tokyo verlassen hatten die Sonne.
Auf dem Weg zum nächsten Tempel (Kyômizudera) besuchten wir noch spontan einen Schrein der uns ins Auge fiel (man kann also wirklich behaupten, dass es von Schreinen in Kyoto nur so wimmelt). Dann nahmen wir einen Nebenweg hinauf zum Tempel, der wiederum recht hoch gelegen war, und dieser ‚Schleichweg‘ führte uns zu einem grossen Friedhof.
Wir konnten kaum unseren Blick von diesem Bild lösen, gingen dann aber doch weiter durch die zunehmend dichteren Flocken zum Tempel. Ein markantes Tor bildet den Eingang; drinnen steht zudem eine hübsche Pagode. Während wir das Areal erkundeten, hörte es plötzlich auf zu schneien. Der Effekt war grossartig: alles sah nun völlig anders aus; was vorher durch die weissen Schlieren kaum zu sehen war, hob sich nun klar gegen den schwere Wolken tragenden Himmel ab. Hinter uns war der Himmel sogar blau.
Auch für den Rest des Tages überraschte uns dieses ‚Aprilwetter‘ mit beeindruckender Wechselhaftigkeit. Auf dem Weg hinunter zurück zur Stadt säumten zahlreiche Souvenirläden die Strasse und es herrschte geschäftiges Treiben. Unser nächstes Ziel, der Kodaiji-Tempel, lag mitten in einem Altstadt-Viertel und war ziemlich schwer zu finden. Den Kodaiji selbst sahen wir nur von aussen, weil er geschlossen war. Unverdrossen zogen wir weiter durch eine hübsche Parkanlage und sahen uns zum Trost den Chion-in an, der mit einigen Prachtbauten überzeugte. Danach ging es weiter durch schmucke Strassen zum Nanzenji. In der Anlage dieses wiederum etwas abgelegeneren Schreins gefielen uns besonders das grosse Holztor
Den Abschluss bildete der Ginkakuji, das silberne Gegenstück zum goldenen Pavillon. Dies aber nur dem Namen nach (gin=silber), der Bau weist keine Silberverkleidung auf. Dennoch ist er herrlich anzusehen, vor allem weil er inmitten eines hübschen Gartens steht, der mit Zen-mässig ‚gekämmtem‘ Kies, Bambus und Teich ausgestattet ist.
Dies bildete den Abschluss eine sehr anstrengenden aber äusserst bereichernden Tages in Kyoto, und nachdem wir uns ein kleines Abendessen gekauft hatten, machten wir uns an die relativ lange Heimreise.
Donnerstag, 9. Februar: Nara
Da wir am vorigen Abend bereits unsere Koffer gepackt hatten, erlaubten wir uns an diesem Morgen etwas auszuschlafen. Um 10 Uhr verliessen wir die Wohnung und machten uns mit Bus und Bahn auf den Weg nach Nara (ca. 6km). Nara war für 70 Jahre im 8. Jh. Hauptstadt Japans, heute hat die Stadt fast so viele Einwohner wie Zürich und ist stolz auf ihr Kulturerbe. Dazu gehören nebst anderen auch der Kofuku-ji, Todai-ji und Kasuga Schrein. In der Reihenfolge besuchten wir die Tempel und Schreine. Die Haupthallen des Kofuku-ji waren leider vollständig unter einer Renovationshalle verborgen, aber die Pagode und ein achteckiger kleinerer Bau lohnten den Abstecher.
Auf dem Weg zum Todai-ji gewannen wir einen Einblick in die ruhigen Strassen Naras, gesäumt von einem weitläufigen Park im Schatten vieler hoher Bäume. Darin tummelten sich zahlreiche Rehe, die hier einfach frei überall herumlaufen und sehr zutraulich sind, weil sie von vielen Leuten (v.a. Touristen) gefüttert werden.
In seinem Innern sitzt ein 16m hoher Bronze-Buddha auf einem fast ebenso hohen Sockel – ein majestätischer Anblick.
Auch der Rest des Innern war interessant, mit weiteren Statuen und Wissenswertem über die Bauweise des Tempels (z.B. kleine Holzmodelle). Als nächstes stand der Kasuga Schrein an, der etwas erhöht an einer Hügelflanke steht, und den man über einen langen, von unzähligen speziellen Steinlaternen gesäumten Waldweg erreicht. Der Schrein selbst ist sehr hübsch, mit einigen uralten Bäumen und weiteren Laternen. Als wir Frau Yamane beim späteren Abendessen darüber berichteten, erklärte sie uns, dass der Kasuga Schrein nach dem Ise-Hauptschrein der wichtigste in Japan sei. Bei wichtigen Festen wohnt denn auch ein Abgesandter des Kaisers bei.
Den Rest unseres Aufenthaltes in Nara verbrachten wir in der Altstadt (Naramachi), wo der Anblick der verwinkelten Gässchen mit herzigen alten Häuschen und winzigen Läden das Gehtempo verringert. Gegen drei Uhr machten wir uns auf den Rückweg zur Wohnung, wo wir noch fertig packten, aufräumten und uns für das letzte Abendessen richteten, an das nahtlos die Rückreise anschliessen würde. Yamanes holten uns um halb sieben ab und wir liefen in ein nahe gelegenes kleines Restaurant, wiederum traditionell japanisch mit niedrigem Tisch, und wieder mit einer Vertiefung im Boden mit Wärmekissen. Dieses Mal erhielten wir fast alle Speisen auf dem gleichen Tablett. Zur Vorspeise gehörte unter anderem Bambus (kann man essen! schmeckt herrlich, am besten zusammen mit Algensalat), Kugelfisch(fugu)-Leber, ein mit konzentrierter Miso gefüllter Shiitake-Pilz, eine Spiralmuschel (man zieht das innere, das aussieht wie eine Schnecke, mit einem Zahnstocher heraus), Fischrogen, ein kleiner Octopus (etwa 10cm, inklusive Kopf und mit Saugnäpfen bestückten Tentakeln), sowie Sashimi (roher Fisch, stets ein Favorit von mir). Dazu tranken wir Bier, gefolgt von einem einzigartigen Wein, aus dem man die Trauben schmeckte. Zur Hauptspeise erhielten wir echtes, perfekt zubereitetes Sushi. Nun da ich es gekostet habe, kann ich ehrlich sagen, dass was uns in der Schweiz als Sushi verkauft wird, definitiv dem Original nicht das Wasser reichen kann. Zum Abschluss gab es Gemüse-Tenpura zu Algen- und Bambussuppe, und ein kleines Dessert. Das Tischgespräch war einmal mehr super spannend. Auf diese Weise körperlich und seelisch gestärkt wurden wir an den Bahnhof Saidaiji gefahren, von wo aus man einen Direktzug nach Kyoto nehmen kann. Der Abschied war herzlich, und im Wissen eines Wiedersehens im August, wenn Frau Yamane mit neuen japanischen Austauschstudenten nach St. Gallen kommt, nicht ganz so traurig. Im Zug erhielt ich dann noch einen Anruf von Frau Yamane, die sich etwas überwältigt erkundigte, ob die Geschenke in der Wohnung wirklich alle für sie seien. Wir versicherten ihr, dass das schon recht so war, unsere Gastgeber hatten sich schliesslich äusserst grosszügig gezeigt und sich unbeschreiblich lieb um uns gekümmert.
Freitag, 10. Februar
Noch einmal konnte ich die Wahrzeichen von Tokyo sehen, noch einmal fuhren wir ganz nah an meinem ehemaligen Wohnort vorbei, und dann fanden wir uns auf dem Flughafen wieder. Obwohl wir viel früher dran waren als erhofft, nahmen der Check-in, die Sicherheitskontrolle (natürlich mit einer riiesigen Warteschlange) und der Weg zum Gate (natürlich das allerhinterste) soviel Zeit in Anspruch, dass nur wenige Minuten für’s DutyFree-Shopping blieben. Trotzdem vergrösserte sich unser Handgepäck ordentlich. Sowieso war das mit dem Gepäck so eine Sache. Ich glaube, ich hab meinen Koffer auf das doppelte seiner eigentlichen Ausmasse vollgestopft. Trotzdem musste ich sehr viel Besitz zurücklassen (also schon als ich aus dem Wohnheim auszog), und konnte bei weitem nicht so viele Souvenirs und Geschenke mitbringen, wie ich gerne gewollt hätte. Als Handgepäck hatten wir einen Koffer und einen Rucksack, sowie meine Handtasche (darf man zusätzlich haben) und drei DutyFree-Taschen. Das Schwierige war aber ein Geschenk von Frau Yamane, eine Box mit Setsubon-Bohnen. Diese werden in Japan zu Neujahr verschenkt und bringen Glück, allerdings darf man sie nicht umkippen. Frau Yamane hat sich sogar Vorwürfe gemacht, uns so ein unüberlegtes Geschenk gemacht zu haben und sorgte sich um uns, falls wir es nicht schafften, die Box ungekippt in die Schweiz zu bringen. Wir beruhigten sie aber, indem wir ihr versprachen, äusserst vorsichtig damit zu sein, und tatsächlich brachten wir die Box zu 100% in der Waagrechten zurück in die Schweiz. Nur schon damit haben wir uns unser Glück mehr als verdient, nicht wahr? Auf dem Flug von Tokyo nach Frankfurt war an Schlaf ebenfalls nicht zu denken, da er ja zur Tageszeit stattfand. Leider liess auch das Filmprogramm zu wünschen übrig, und die letzten vier der insgesamt 11 Stunden Flugzeit wurde ich von meinem Sitznachbarn vollgequatscht. In Frankfurt angekommen hatten wir vier Stunden totzuschlagen, das ging aber leichter als gedacht. Das Boarding verschlug uns wiederum zum äussersten Gate, und nach nur einer halben Stunde Flug erreichten wir Zürich kurz nach acht Uhr abends. Um neun nahmen wir den Zug nach St. Gallen, wo uns meine Geschwister per Auto abholten. Ja, und so schliesst sich der Kreis meines Austauschsemesters zumindest räumlich. Die Noten stehen noch aus, ein Bericht für die Uni noch an, und natürlich gibt es Freundschaften, die mir hoffentlich fürs Leben erhalten bleiben werden. Jetzt freu ich mich aber erstmal auf meine Freunde und Familie hier, über den vielen Schnee (und Streusalz), die Heizung, das vorzügliche Hahnenwasser, Früchte zu vernünftigen Preisen, Zeitungen, die ich lesen kann und eine Internetverbindung, die keine Zen-buddhistische Geduld erfordert. Allerdings fehlt beim Frühstück die Miso-Suppe, es schmerzt der technologische Rückschritt vom japanischen Handy zu meinem antiken Sony Ericsson, die Rechnungen in der Post werden liebe Briefe (ganz zu schweigen von Paketen) nun wieder haushoch überwiegen, die gemeinsamen Abendessen mit meinen Freundinnen im Wohnheim sind passé, und das kleine bisschen Dekadenz in mir vermisst doch tatsächlich die Klositzheizung. Mein Fazit aber ist eindeutig: Der Entscheid vor etwas mehr als einem Jahr, dieses Austauschsemester zu wagen, war goldrichtig; der Wert der Erfahrungen, die ich dadurch gewonnen habe, materiell nicht messbar, und die Zeit in Japan in ihrer Art die beste meines bisherigen Lebens. Ich glaube, viel für mein weiteres Leben gelernt zu haben, und damit meine ich nicht den Pincode für meine Kreditkarte. Nach diesem letzten Husarenstück erkläre ich den Blog für beendet.
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MEHR DAZU
- Den gesamten Blog von Svenja, von Anfang bis Ende findet ihr hier.
- Blog: Kyoto, Osaka
- Blog: Abschied von Tokyo