Serbien – Zwei Seiten eines Landes

Gastbeitrag von: Marc A. Iseli und Zanet Zabarac, Teilnehmer der Belgradreise

Für die meisten Westeuropäer ist der Balkan nichts weiter als ein vom Krieg gezeichnetes Gebiet, irgendwo im südlicheren Teil Europas, wo es nichts zu entdecken gibt. Einseitige Berichterstattungen haben dazu geführt, dass viele mit dem Begriff „Balkan“ nur die Vorstellung von Krieg, Nationalismus und Korruption in Verbindung bringen. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die seit dem demokratischen Umbruch in Serbien im Land ist, initiierte gemeinsam mit der Studentenschaft der Universität St. Gallen eine dreitätige Studienreise nach Belgrad. Die Idee selbst stammt von Martin Frick, einem HSG-Doktoranden. In Zusammenarbeit mit der Leitung Studienprogramme International Affairs und der finanziellen Unterstützung des Projektes „Kommunale Wirtschaftsförderung im Donautal“ (KWD), erhielten 20 HSG-Studierende die Möglichkeit, die Region von einer anderen Seite kennen zu lernen.

Die Reise nach Belgrad bot ein spannendes Programm. So standen Besuche in der Schweizer und der Deutschen Botschaft an, Gespräche mit regionalen Wirtschaftsförderern sowie ein Besuch eines Familienunternehmens. Interessant machte den Aufenthalt unter anderem auch die Tatsache, dass sich das Land zu diesem Zeitpunkt im Präsidentschaftswahlkampf befand. Die Parteien Serbiens überboten sich in ihrem Wahlversprechen, welche ausländischen Firmen sie nach ihrem Wahlsieg ins Land holen würden, um so die seit Jahren stagnierende Wirtschaft anzukurbeln. Ein Ziel ist allerdings allen Parteien gemein: der EU-Beitritt.

Wie stark dieser Wunsch nach einer Integration ist und weshalb dieser von geraumer Wichtigkeit für das Land ist, wurde insbesondere nach einem spannenden Vortrag, wie ihn nur ein Politiker halten kann, deutlich. Bozidar Djelic, ehemaliger Vizepremierminister und Verantwortlicher für die Annäherung Serbiens an die EU, nahm sich Zeit für die Gruppe interessierter HSG-Studierender und anstatt davon zu sprechen, dass Serbien schwer an seiner historischen Last oder Schuld trägt, fokussierte sich Djelic auf die ökonomischen Aspekte und Vorteile des Landes. Was Serbien wirklich benötige, sei eine selbstbestimmte, freiheitliche und an liberalen Werten orientierte Wirtschaft, ausländische Direktinvestitionen und neue Helden, die umjubelt werden, weil sie Arbeitsplätze schaffen und nicht weil sie die Masse mit nationalistischen Parolen beflügeln. Vom Stigma des gebeutelten Volkes, des Opfers oder des Täters spricht er nicht, weil es sinnlos wäre, darüber zu sprechen; das Land benötige eine Moral, die nicht politisch fundiert ist, sondern ökonomisch. Darin sieht er den einzigen Ausweg aus dem Armenhaus. Er wünscht eine Stärkung des Bildungssystems, eine Gesellschaft beruhend auf dem Prinzip der Gleichheit und ein Abbau von Vorurteilen – und nicht zuletzt eine Integration in die Europäische Union.

Es mag an seiner charismatischen Art liegen oder ganz einfach daran, dass diese Vision den Gedanken einer liberalen westlichen Gesellschaft entsprechen, aber man nickt Djelic zu. Tatsächlich benötigt Serbien nichts dringender als eine prosperierende Wirtschaft, um das junge demokratische Konstrukt zu stärken und eine Annäherung an Europa zu gewährleisten. Serbiens wirtschaftliche Bilanz ist zurzeit nämlich desaströs: Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei nahezu 24 Prozent, wobei die Jugendarbeitslosigkeit weit höher ist, das Bruttoinlandprodukt Serbiens liegt bei rund 40 Mrd. Dollar. Das ist etwas mehr als der Umsatz, den die Migros-Gruppe 2010 erwirtschaftet hat. Ein funktionierendes Sozialsystem ist nahezu inexistent. Die Arbeitskraft im Land ist die relativ günstigste Europas.

Und obschon diese Zahlen eine eindeutige Sprache sprechen, ist man versucht, den Worten von Djelic ein «ja, aber» zu entgegen. Ja, Serbien braucht wirtschaftliches Wachstum und es braucht neue liberale Helden, aber braucht es ein ökonomisches Dogma, das sich über den Diskurs über die Vergangenheit hinwegsetzt? Eher nein. Serbien ist nicht nur Opfer. Und man darf da auch nicht die hitzigste politische Frage des Landes vergessen: den Kosovo. Die Formel «EU und Kosovo», mit der Serbiens Noch-Präsident Boris Tadic die Wahlen im Jahr 2008 für sich gewinnen konnte, scheint für die westlichen Partner und die Europäische Union fragwürdig zu sein, wie ein Mitarbeiter der deutschen diplomatischen Gesandtschaft eindeutig festhielt. Ein Beitritt zur Union ist aber das erklärte Ziel des Landes, weil dies der beste Garant für eine prosperierende wirtschaftliche Entwicklung ist.

Serbien ist ein vielschichtiges Land. Ein Land, das einerseits noch immer tief in der eigenen Geschichte versunken ist; nicht zuletzt zum Ausdruck gekommen, als die Gruppe einen Ausflug in den Norden des Landes unternehmen durfte. Auf dem Weg zu einer Firmenbesichtigung fernab des städtischen Glanzes von Belgrad, bekamen die Studierenden einen Einblick auf das ländliche Leben in Serbien: Mittelmässige Strassen, bombardierte, verlassene Häuser, an deren Abbruch niemand denkt oder sie überhaupt finanzieren könnte, Bauern, denen ihre Armut ins Gesicht geschrieben ist. Auch das ist Serbien. Manch ein Studierender mag sich gefragt haben, was wohl aus ihm geworden wäre, wäre er hier und nicht in der Schweiz oder einem anderen westeuropäischen Land aufgewachsen. Dass zwischen der Lebensqualität in der Hauptstadt und der ländlichen Provinz eine grosse Lücke klafft, ist während des Ausfluges wohl jedem bewusst geworden.

Eine interessante Abwechslung und eine andere Perspektive auf das Leben in Belgrad bot die Begegnung mit gleichaltrigen Studierenden aus Belgrad. War die Sprachbarriere erst einmal überwunden, stand unterhaltsamen Gesprächen und dem gemeinsamen Feiern nichts mehr im Wege. Im Gespräch mit Jelisaveta, einer Studentin aus Belgrad, wurde allerdings klar, dass sie und ihre Freunde sich beinahe als privilegiert betrachten, studieren zu können. Dies sei bei Weitem keine Selbstverständlichkeit für die Jugend in Serbien. Es fehle vor allem an finanzieller Unterstützung durch das Land. Auch wenn der Weg sicherlich noch ein weiter sei, hätten sie und ihre Studienkollegen nicht den Glauben daran verloren, dass es in Zukunft besser werde. Auf die Frage, was es ihrer Meinung nach zur Besserung denn brauche, meint sie ganz klar: Den Beitritt zu EU.

Man kann nur hoffen, dass der neue Präsident des Landes, der am 20. Mai per Stichwahl bestimmt werden soll, seine Versprechen halten wird und dem Rest Europas und insbesondere der Europäischen Union beweist, dass sich das Land Richtung Fortschritt bewegt. Man darf gespannt sein auf die zukünftigen Entwicklungen, und wer weiss, vielleicht liest man in unseren Medien demnächst auch die ein oder andere positive Schlagzeile über den Balkan.

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