Semesterferien sind ja auch immer eine Gelegenheit, sich Gedanken zu machen über Fragen, die weder ECTS-Punkte geben noch in irgendwelchen Uni-Skripten erwähnt werden. Eine dieser etwas zwecklosen, aber interessanten Fragen: Was machten eigentlich die Leute im Sommer vor genau hundert Jahren? Diese Frage hat sich auch der Autor Florian Illies gestellt – und hat daraus ein brillantes Buch gesmacht: „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“. Ein Sommerlektüre-Tipp!
Die Temperaturen des Sommers 1913 sollen sehr tief gewesen sein. Doch ansonsten ging es heiss zu und her. Rilke macht in Heiligendamm Urlaub und die Qual der Wahl zwischen seinen vielen Geliebten bereitet ihm Kopfzerbrechen, Kafka verliebt sich am Gardasee in eine Schweizerin, Wedekinds Theater-Stück Lulu enthält so viel Sex, dass es verboten wird und Stravinsky trifft zum ersten Mal seine spätere Geliebte Coco Chanel, die gerade ihre zweite Boutique eröffnet hat.
Das klingt wie aus einer Boulevard-Zeitschrift für Intellektuelle, doch Illies Buch ist mehr als das. Es ist ein fulminantes Panoptikum des Jahres 1913. Gegliedert in die Kapitel „Januar“ bis „Dezember“ zeigt der Autor in Form von kurzen Anekdoten, was in diesem Jahr in der Kultur alles geschah. Das Erfrischende dabei ist, dass das Buch überhaupt nicht den Mief einer kulturwissenschaftlichen Abhandlung atmet. Ganz im Gegenteil: Illies schreibt süffig und mit viel Ironie. Auf diese Art nimmt er uns mit auf eine Reise durch die Irrungen und Wirrungen des Jahres 1913: die Franzosen legen Trauer-Blumen nieder im Louvre, wo zwei Jahre zuvor die Mona Lisa entwendet wurde, Hitler und Stalin spazieren im gleichen Park (kennen sich aber noch nicht), Schönberg wird für seine 12-Ton-Musik öffentlich geohrfeigt,… Dabei kommt nicht nur die Hochkultur zur Sprache- Wir erfahren auch, dass 1913 der erste Aldi-Laden gegründet, Ecstasy erfunden und der erste Looping geflogen wurde.
Und wo bleiben die Anzeichen auf den anstehenden Ersten Weltkrieg, mag man sich nun fragen. Das Buch ist gerade deshalb so empfehlenswert, weil es mit unserer gängigen Vorstellung von Geschichte bricht. Aus unserer retrospektiven Optik hat sich der Erste Weltkrieg bereits 1913 abgezeichnet, doch für die Zeitgenossen war die Katastrophe kein Thema. 1911 wurde der Bestseller The Great Illusion publiziert, in dem der Autor zeigte, dass es nie wieder zu einem Krieg in Europa kommen werde, weil die Länder durch die Globalisierung wirtschaftlich zu eng miteinander verknüpft seien.
Aus dieser Perspektive ist das Buch nicht nur historisch interessant. Es wirft auch die Frage auf, welche Entwicklungen wir als Zeitgenossen des Jahres 2013 nicht wahrnehmen, weil wir nicht retrospektive Beobachter, sondern Akteure im Hier und Jetzt sind. Unsere Enkelkinder werden es spätestens wissen, wenn ein Autor in 100 Jahren das Buch schreibt „2013 – der Sommer des Jahrhunderts“. Was dort wohl drin stehen wird? Wieder eine dieser Fragen, über die man in den Semesterferien nachdenken kann…
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Kontroverse Diskussion über das Buch im Literaturclub (SRF)