Abstraktion des Lebens

Die Ausstellung «Körperwelten» des deutschen Anatomen Gunther von Hagens in Zürich zeigt: Das Marketing funktioniert, doch die plastinierten Körper stossen nicht durchgängig auf Gefallen.

Über die Ausstellung des Plastinators Gunther von Hagens scheiden sich seit Jahren die Geister: Befürworter und Körperspender sehen in der Ausstellung einen Beitrag zur medizinischen Aufklärung, Schaulustige ein unterhaltsames Gruselkabinett und Gegner der Ausstellung fühlen sich durch die Präsentation präparierter Leichenteile in ihrem Pietätsgefühls verletzt.

Die ideale Schönheit

Vor rund zweitausend Jahren entwickelte der römische Architekt Marcus Vitruvius Pollio das Konzept des «wohlgeformten Menschen», dessen Gliedmassen in einem idealen Verhältnis zueinander stehen. Da Vincis Bildnis des vitruvianischen Menschen ist während der Renaissance der Inbegriff der Ästhetik schlechthin: In der Vollkommenheit der menschlichen Proportionen sahen die Intellektuellen der Epoche den eindeutigen Beweis für die Schönheit der göttlichen Schöpfung. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, verliert der menschliche Körper selbst durch die Plastination nichts an seiner Vollkommenheit – die Proportionen und die damit verbundene Schönheit werden sogar noch betont. Bis vor 200 Jahren dominierte die Vorstellung, dass der menschliche Körper eine unantastbare Gabe Gottes ist: Die Öffnung und Untersuchung von Leichen wurde daher mit der Todesstrafe geahndet. Dieses Verbot schränkte den medizinischen Fortschritt stark ein und wurde aufgehoben.

Wanderzirkus Körperwelten

Unter dem Deckmantel der medizinischen Aufklärung wird der menschliche Leib in der Ausstellung – einer Maschine gleich – fein säuberlich in seine Einzelteile zerlegt und zur Schau gestellt. Der plastinierte Oberkörper eines etwa sechzigjährigen Mannes, dessen Schädel mit allerhöchster Präzision längs gespalten wurde, ist besonders erschütternd. Es ist das einzige Ausstellungsstück, das noch Haut hat; nur der Kopf wurde gespalten. Von den gut sichtbaren Hautporen über die ergrauten Wimpern bis hin zum ausgeprägten Doppelkinn geht von diesem Exponat etwas Lebendiges aus. Auch die übrigen Plastinate wirken höchst befremdlich – blossgelegte Augäpfel starren den Betrachter an. Denn ohne charakteristische Züge wird jeder Körper austauschbar, jedes Gesicht verliert seine einzigartige Ausstrahlung und verkommt zur grotesken Maske. «Körperwelten» erinnert eher an einen Wanderzirkus für Schaulustige als an wissenschaftliche Forschung.

Der Wandel im Umgang mit dem menschlichen Körper

Der Umgang mit der körperlichen Schönheit hat sich grundsätzlich geändert: In der modernen westlichen Gesellschaft wird Schönheit häufig mit Perfektion gleichgesetzt. Heutzutage ist der Körper nicht mehr Gottes perfektes Werk, sondern mit Hilfe plastischer Chirurgie kann man sich an die aktuelle Mode anpassen, welche meist auf das Ideal der ewigen Jugend hinausläuft. Diese jugendliche Schönheit wird schliesslich mit allen Mitteln zu konservieren versucht. Und wie so mancher Chirurg sieht auch der Plastinator Gunther von Hagens in der Konservierung der körperlichen «Schönheit» eine Form künstlerischen Schaffens. Durch die chirurgische Beseitigung charakteristischer Erscheinungsmerkmale und die vollständige Entfernung äusserer Hautschichten verliert der Mensch seine Individualität. Auf diese Weise wird das Individuum auf das funktionale Zusammenspiel von Sehnen, Muskeln und Knochen reduziert.

Durch die chirurgische Beseitigung charakteristischer Erscheinungsmerkmale und die vollständige Entfernung äusserer Hautschichten verliert der Mensch seine Individualität. Auf diese Weise wird das Individuum auf das funktionale Zusammenspiel von Sehnen, Muskeln und Knochen reduziert.

Plastinate, Pervertierung, Provokation und Porno 

In einem abgetrennten und Volljährigen vorbehaltenen Bereich der Ausstellung werden dem Betrachter drei Paare beim Sex präsentiert. Das entpuppt sich allerdings schnell als Marketing-Gag, da im Vergleich zu anderen Exponaten wenig Aufschlussreiches zu sehen ist. Allerdings provozieren diese Akte schon im Vorfeld der Ausstellung hitzige Diskussionen und sorgen so für ein hohes Besucherinteresse am Wanderzirkus. Neben all dem Kommerz darf man nicht vergessen, dass jeder Spender seinen Körper freiwillig zur Plastination frei gegeben hat. Die Beweggründe der Spender waren womöglich nicht rein aufklärerischer Natur, sie sparten ihren Hinterbliebenen so auch die Beerdigungskosten. Was mit den nicht plastinierten Leichenteilen geschehen war, konnten wir nicht in Erfahrung bringen.


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