Millionen von Menschen greifen täglich zu Boulevardzeitungen. Doch die Kritiker stempeln diese Zeitungen als niveaulose und stumpfsinnige Schundblätter ab, die allein zur Verblödung der Gesellschaft beitragen. Grund genug für uns, einen einwöchigen Selbstversuch zu starten.
Unsere Vorgabe ist klar: Für eine Woche sind unsere einzigen Informationsbezugsquellen Boulevardblätter. Wir wollen wissen, welche Sicht auf die Welt uns Bild, Blick, Schweizer Illustrierte und Glückspost vermitteln. Und es macht uns anfangs sogar richtig Spass: das ungläubige Gesicht der Kioskverkäuferin, als wir ihr die Glückspost über die Ladentheke reichen, ist schon einiges wert.
Skandal zum Wochenauftakt
Die Woche beginnt bei der Bildzeitung mit einer skandalösen Meldung: «Haftbefehl! ‹No-Angels›-Star Nadja festgenommen»; und ein grosser roter Pfeil brandmarkt die Sängerin der ehemals erfolgreichen Mädchenband bereits auf der Titelseite. Bild kennt den genauen Straftatbestand noch nicht, dennoch spekuliert sie in sehr trüben Gewässern und macht sich bereits Gedanken über die Konsequenzen der Verhaftung: «Ist die Inhaftierung der Halbmarokkanerin das Ende einer Musikkarriere, die so vielversprechend begann?»
Mehr Stoff bietet uns die Lektüre aber nicht (na ja, natürlich werfen wir noch einen kurzen Blick auf die nackte «Mieze» Imogen (21), die sich «so gerne brüstet»), deshalb lesen wir beim schweizerischen Pendant der Bild, dem Blick, weiter. Zwar noch keine Zeile über Nadja, dennoch strotzen die ersten Seiten nur so vor Sensationsmeldungen, stark wertenden Artikeln über angebliche Scheinehen sowie halbseitigen MMS-Fotos, welche natürlich heillos verpixelt sind. Informativ oder politisch sind die ersten Seiten des Blicks an diesem Morgen garantiert nicht.
Der Kampf um das zugelaufene Büsi
Als wir die sensationsgeilen «Tageszeitungen» beiseitelegen und zu den Wochenmagazinen wechseln, verbessert sich die Situation leider nicht. Denn die Glückspost ist nun wirklich ganz seichte Unterhaltung. Die Schweizer B- und C-Promis, unter ihnen Stepptanz-Star Angelo Borer, erzählen von ihren Sehnsüchten, während Leserin Nora K. aus Sursee fragt, ob sie das zugelaufene Büsi behalten darf. Aha. Sonst noch was? Ja, ein Artikel über die morgendlichen Singvögel mit dem Titel «Wer zwitschert da?» sowie die Wahl zum Mutter-Tochter-Paar 2009. Nein, das geht einfach gar nicht.
Am nächsten Morgen hat Bild die ganzseitige Exlusivmeldung: «No-Angels-Star Nadja ist HIV-positiv!» Auf schwarzem Hintergrund in weissen Buchstaben werden die Fakten des dramatischen Falls aufgelistet: «Sie soll ohne Kondom Sex gehabt haben – mindestens einer ihrer Ex-Geliebten ist infiziert – U-Haft, um Männer vor Ansteckung zu schützen.» Ja, die Bild hat ihr Thema der Woche gefunden – und geniesst es in vollen Zügen. Von nun an gibt es jeden Tag neue Informationen, neue Interviews und neue Kleinigkeiten, die irgendwie mit dem Fall zu tun haben könnten. Und das alles mit grossen Fotos und möglichst wenig Sätzen (deshalb heisst die Zeitung ja auch «Bild» und nicht «Text»). Als Bild-Redakteur, das hat Benjamin von Stuckrad-Barre mal herausgefunden, ist das Leben ein Kampf gegen Nebensätze und grosse Erklärungen, denn dafür ist weder Platz noch Zeit. Da können wir leider nur zustimmen.
Bobama weiss, was zu tun ist
Beim Blick scheint derweil der Fokus bei Meldungen weniger auf deren Informationsgehalt als auf der Ungewöhnlichkeit zu liegen. So berichtet das Blatt im Lauf der Woche über einen Emu, der im Appenzeller Wald ein tragisches Ende fand. Neben einem Leserbild (natürlich wieder verpixelt) steht die Frage: «Wer hat den Vogel im Appenzeller Wald aufgegessen – Fuchs oder Mensch?» Wir tippen auf einen Gepard aus dem Zürcher Zoo und blättern schnell weiter. Im hinteren Teil der Zeitung stossen wir auf eine Reportage, wie der Jodlerklub Wiesenberg einen Plattenvertrag ausschlägt, und auf eine Do’s-&-Dont’s-Liste für den kleinsten Mitbewohner des Weissen Hauses: Bo, der Präsidentenhund (oder wie Bild das arme Tier nennt: Bobama). Vermehrt beginnen wir uns zu fragen: Wen interessiert so was?
Noch geben wir nicht auf. Ein neuer Versuch: die Schweizer Illustrierte. Zum ersten Mal finden wir auch richtig interessante Artikel. So erklärt zum Beispiel der Marketingchef der Migros deren neue Werbe-Kampagnen, während die Literaturrezensionen eine gewisse Lust am Lesen wecken. Der gute Eindruck wird jedoch durch das beiliegende Fussballheft «Goal» sogleich wieder zunichtegemacht. Dieses enthält einen zweiseitigen Artikel über die Falten in Ottmar Hitzfelds Gesicht und die Fragestellung, ob diese aus der Qualität oder der Quantität der Niederlagen während seiner Trainerlaufbahn stammen. Eine völlig sinnfreie Frage, die ins hoch Philosophische aufgebauscht wird. Aber sicher nicht informativer ist als der SBB-Taktfahrplan.
Ein Engel auf Erden
Sonntag. Wir haben die Woche fast überstanden. Doch heute erscheint noch die Bild am Sonntag, praktisch die Zusammenfassung von dem, was laut Bild während der Woche wichtig war. Deshalb verwundert es nicht, dass wir eine achtseitige Reportage zum Fall Nadja mit dem Titel «Der Angel, Aids und die Angst» lesen können. Da wird über Nadjas angeblich verkorkste Jugendjahre geschrieben («Joint mit 13, Sex mit 13, Crack mit 14»), vom «Drecksgefühl», ein Leben lang von niemandem verstanden zu werden, und von der Ausweglosigkeit, vor der sie nun stehe. Gespickt wird diese dramatische Lebensgeschichte mit Aussagen einzelner Bild-Mitarbeiter zum Sexualverhalten in deren Bekanntenkreis (!), einer angeblich repräsentativen Umfrage über den Anstieg der Zahl der Aids-Tests seit Wochenbeginn sowie Expertenaussagen zum Thema HIV/Aids. Und die Reportage schliesst mit den Worten: «Die Angst vor dem Virus ist wieder zurückgekehrt, sie hat jetzt ein neues Gesicht. Das Gesicht eines Engels und die Seele eines unverstandenen Menschen.»
Wir fragen uns bei solchen Sätzen, ob es wirklich notwendig ist, einem gesellschaftlich relevanten Thema wie Aids nur auf Kosten eines Menschen die angemessene Aufmerksamkeit zu verschaffen. Denn das Leben von Nadja Benaissa scheint zerstört; natürlich durch ihre eigene Tat, aber auch durch die Verunglimpfung in den Boulevardblättern. Wir denken an Heinrich Bölls fiktiven Charakter der Katharina Blum, der ein ähnliches Schicksal zuteil wurde. Böll hat vor der Gefahr und der Macht der Boulevardblätter immer gewarnt: «Die Gewalt von Worten kann manchmal schlimmer sein als die von Ohrfeigen und Pistolen.»
Und so endet unser einwöchiger Selbstversuch ein wenig nachdenklich. Nachdenklich über die oftmals so unerträglich oberflächlichen Sensationsmeldungen und banalen Unterhaltungsthemen, die aber anscheinend von einer breiten Zahl der Leserschaft mit Interesse verfolgt werden; und nachdenklich über die Art und Weise, wie manche Blätter versuchen, die Emotionen und Meinungen ihrer Leser zu steuern. Dass sich das in Zukunft ändern wird, glauben wir kaum. Aber dass immer mehr Menschen kritisch das Medium Boulevardzeitung hinterfragen, daran wollen wir schon glauben.
Übrigens: Nadja wurde am darauffolgenden Dienstag aus der U-Haft entlassen. Bild wusste es als Erste …