Artikel 155 kommt zum Zug

Die Lage in Spanien spitzt sich zu. Die katalanische Regionalregierung
ist auf Konfrontationskurs. Die Geschichte eines ungleichen Paares.

Die Region Katalonien ist in Aufruhr. Spanien ist kein Nationalstaat. Vielmehr ist es ein Vielvölkerstaat aus mehreren Nationen und kleineren Ethnien, welche vor allem in der Peripherie leben. Während im Zentrum und im Süden Kastilisch, also das klassische Hochspanisch, dominiert, spricht man im Norden und im Osten Katalanisch, Baskisch und Galizisch. Die Region Katalonien ist etwas kleiner als die Schweiz und hat 7.5 Millionen Einwohner. Katalonien macht etwa 20 Prozent des BIP Spaniens aus und ist somit neben dem Gebiet um Madrid die wirtschaftlich wichtigste Region des Landes. Gemäss Hugo Marcos-Marne, Postdoc Researcher an der Universität St. Gallen, verstehen sich die meisten Katalanen nicht als Spanier und wenn, dann nur in einer sekundären Rolle. Selbst aus Spanien kommend, forscht er am Institut für Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt nationale Identitäten und Populismus.
Das Spanien, welches wir heute kennen, wurde aus einer Vielzahl an kleinerer Königreiche nach der Reconquista zusammengeschlossen. So geschah es auch mit dem Königreich Aragon, zu dessen Gebiet das heutige Katalonien gehörte und in dem Katalanisch gesprochen wurde. Durch eine Heirat wurden die beiden Königreiche vereint, wobei Kastilien die zentrale Rolle übernahm. Politisches Zentrum blieb dabei immer Madrid. Besonders während der Diktatur von Franco wurde viel Wert auf eine Homogenisierung der Gesellschaft gelegt. So war es verboten, die Minderheitensprachen zu sprechen oder katalanische Bücher zu lesen. Das Regime untersagte kulturelle Praktiken und machte häufig Gebrauch von Gewalt.
Nach dem Tod Francos und der Rückkehr zur Demokratie wurden die Katalanen wieder gleich behandelt wie die Spanier und es wurden ihnen sogar gewisse Autonomierechte gewährt. Vollständig respektiert wurde ihre Kultur jedoch nie. Gemäss Marcos-Marne kommt daher der grösste Teil der Ressentiments. Für viele Minderheiten in Spanien ging der Kampf für Freiheit und Demokratie auch immer mit dem Kampf um kulturelle Identität einher. Es sei weniger eine Frage des Geldes, als vielmehr ein mangelndes Verständnis der Zentralregierung für die katalanische Identität. 2010 entschied das spanische Verfassungsgericht einige der 2006 gewährten Autonomierechte wieder aufzuheben, was der Auslöser für die jüngste Unabhängigkeitsbewegung war. 2015 gewannen die Separatisten die Mehrheit im Regionalparlament in Barcelona und kündigten ein Unabhängigkeitsreferendum an.

Der Tag des Aufstands

Am 1. Oktober stimmten die Katalanen über ihre Unabhängigkeit ab. Die Zustimmung lag bei 90 Prozent, jedoch war die Wahlbeteiligung mit 40 Prozent sehr niedrig. Marcos-Marne erklärt, dass die Gegner der Unabhängigkeit sowieso zu Hause blieben, da sie nicht an die Verbindlichkeit des Referendums glaubten. Der Wahltag war dann überschattet von exzessiver Brutalität, die vonseiten der spanischen Nationalpolizei gegenüber den Wählern ausgeübt wurde. Dabei wurden mehrere hundert Personen verletzt, was die Spaltung zwischen Spanien und Katalonien noch weiter verschärfte. Viele Katalanen sahen sich in die Zeit Francos zurückversetzt. Zusätzlich wurden mehrere Organisatoren der Protestbewegungen verhaftet. Ihnen werden schwere Straftaten vorgeworfen, die bis zu 15 Jahren im Gefängnis führen könnten. Mariano Rajoy, der Ministerpräsident Spaniens, wählte in diesem Konflikt eine Strategie der Angst, um die Bevölkerung von der Strasse zu bringen. Erreicht hat er das Gegenteil, er verschärfte die Spannungen nur weiter. Carles Puigdemont,
der Regionalpräsident Kataloniens, nahm das Resultat als Anlass, um die Abspaltung in Gang zu setzen. Er verhielt sich jedoch vorerst zögerlich und unternahm keine eindeutigen Schritte, da Mariano Rajoy sich nicht auf Diskussionen über die Unabhängigkeit Kataloniens oder dessen Autonomierechte einlässt. Rajoy zufolge war das Referendum von vorneherein illegal und er sieht sich daher im Recht. Andererseits wollte Puigdemont auch nicht einseitig die Unabhängigkeit deklarieren, da dies zu einer direkten Intervention der Zentralregierung führen würde.
Die Europäische Union hat zwar die Gewalt verurteilt, bezog jedoch am Anfang noch keine Stellung. Tendenziell stellt sie sich gemäss Marcos-Marne jedoch auf die Seite Spaniens, da dieses ein Mitglied der Union darstellt und viele weitere EU-Staaten mit separatistischen Bewegungen zu kämpfen haben. Nach der Unabhängigkeitserklärung Kataloniens erklärten viele EU-Staaten, dass sie die Souveränität der Region nicht anerkennen würden und dass die Zentralregierung dringend den Dialog suchen müsse.

Eine Republik Katalonien?

Am Freitag dem 27. Oktober hat das katalanische Regionalparlament für eine Abspaltung von Spanien gestimmt und die Republik Katalonien ausgerufen. Puigdemont hat den Hardlinern in seiner Koalition nachgegeben, die eine sofortige Unabhängigkeitserklärung bevorzugten, während der Präsident Kataloniens eher vorsah, wieder Neuwahlen auszurufen. Damit ist die Regionalregierung auf offenem Konfrontationskurs mit Rajoy.
Gleichzeitig debattierte der Senat in Madrid über den Einsatz von Artikel 155 der spanischen Verfassung, welcher es dem Ministerpräsidenten erlaubt, Massnahmen einzuleiten, um die Ordnung in Katalonien wiederherzustellen. Der Senat stimmte am Schluss für den Artikel und erlaubt es so Rajoy, Puigdemont abzusetzen, eine Interim-Regierung einzusetzen und Neuwahlen auszurufen. Rajoy ist eindeutig im Recht, da Puigdemont mehrmals die Verfassung gebrochen hat. Der Ministerpräsident muss dabei jedoch aufpassen, die Katalanen nicht noch weiter von Spanien wegzustossen. Die konservativen Wähler im Rest Spaniens stehen hinter dem Einheitsstaat und erwarten daher von Rajoy, dass er alles Mögliche tut, um Katalonien in Spanien zu behalten. Rajoy steht also vor einem Dilemma, in welchem er auf einer Seite die Katalanen nicht vergraulen, auf der anderen Seite aber auch keine Schwäche gegenüber seinen Wählern zeigen möchte.
Der Weg zu einer anerkannten Republik Katalonien ist steinig. Neue Anwärter für die EU müssen von allen Mitgliedern bestätigt werden, so auch von Spanien. Marcos-Marne hält es für unrealistisch, dass Spanien dies akzeptieren würde. Langfristig müssen sich Katalonien und Spanien arrangieren können, damit Katalonien wieder der EU beitreten könnte. Die katalanische Regionalregierung hat bereits erklärt, dass sie sofort mit der EU Verhandlungen aufnehmen möchte, um Teil der Union zu bleiben. Alle offiziellen Sprecher der EU-Staaten haben dies jedoch zurückgewiesen. Weiter haben auch viele Unternehmen im Falle einer Unabhängigkeit Kataloniens erklärt, sie würden nach Madrid umziehen. Einige Unternehmen, wie zum Beispiel Zurich, Freixenet und viele Banken haben dies bereits getan. Es ist also vorerst mit einem Wirtschaftseinbruch zu rechnen.
Sowohl für die Regierung in Katalonien, als auch für diese in Madrid ist die aktuelle politische Situation Neuland. Sicher ist nur, dass die nächsten Monate turbulent sein werden und dieser Konflikt mit einer Unabhängigkeitserklärung noch lange nicht geklärt sein wird. Früher oder später werden sich beide Seiten an einen Tisch setzen müssen, um über die Zukunft auf der iberischen Halbinsel zu verhandeln.


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