Den eigenen Überzeugungen treu bleiben

Offener Brief eines HSG-Studierenden zu einem kritischen Weltbild und zum ständigen Hinterfragen der Realität.

«Wer sich in der Gesellschaft nicht wohl fühlt, der hat gewöhnlich ganz Recht.» Coco Chanel

Die Gründe, sich in der Gesellschaft nicht wohl zu fühlen, sind heute offensichtlicher denn je zuvor. Es gibt viele Defizite und es brennt an allen Ecken und Enden. Dass das nicht jeder so sehen muss, ist ebenso klar. Wir sind Individuen. Warum wächst aber die Zahl derer immer weiter, die sich mit manchen Standpunkten gar nicht beschäftigen wollen oder gar deren Verteidiger pauschal verurteilen?

Ich bin mit vielen Idealen an die HSG gekommen; mit dem Wunsch, in der Gesellschaft etwas zu bewegen – um genau zu sein, in den Köpfen der Gesellschaft. Doch die erste grosse Ernüchterung liess nicht lange auf sich warten. Hatte ich vor der Startwoche überwiegend mit Kommilitonen gesprochen, die dafür immerhin Interesse zeigten, musste ich leider feststellen, dass zumindest in meiner Gruppe die Motivation gegen null tendierte.

Das Studium in St. Gallen wird uns später viele Möglichkeiten und Wege öffnen. Diese führen meistens zu Positionen, in denen man eine grosse Entscheidungsgewalt hat, und damit verbunden eine grosse Verantwortung.

Wenn also Jean Ziegler sagt: «Jedes Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet», sollten wir uns nicht als Schuldige fühlen, sondern uns Gedanken machen, ob wir selbst etwas dagegen tun können, und die Antwort lautet: Ja. Schuld hat nur der, der diesen Umstand hinnimmt. Ich fühle mich nicht wohl in dieser Gesellschaft, da sie Kinder verhungern lässt, während Fettleibigkeit zu einem der grössten Gesundheitsprobleme der Industriestaaten und Schwellenländer wird.

Aber die Probleme dieser Welt sind bei weitem vielfältiger. Der Haken ist, dass sich die wenigsten tiefgründiger damit beschäftigen.

Es gibt heute doppelt so viele Tonnen an Sprengkraft wie Nahrungsmittel, und Investoren in New York treiben die Nahrungsmittelpreise in Afrika und Asien in Rekordhöhen. Man kann natürlich weiter Néstle-Schokolade kaufen, oder man verzichtet bewusst darauf, weil Nestlé, wie die meisten grossen Schokoladenproduzenten, Kakaobohnen von Zulieferern kauft, die massiv Kindersklaven beschäftigen. Wir können weiter Fleisch essen oder bewusst darauf verzichten, weil bis zu 25 kg Getreide zur Produktion von 1 kg Fleisch benötigt werden. Das sind nur einige wenige Punkte, und es liegt am eigenen Gewissen, ob man sich mit ihnen konfrontiert und wie man sich letztendlich entscheidet. Es ist keine Entschuldigung, etwas zu tun, nur weil alle es tun. Jeder trägt eine individuelle Verantwortung.

Wir haben es auch nach 5000 Jahren Menschheitsgeschichte nicht geschafft, uns von Pauschalisierungen zu trennen. Warum denn auch, sie machen das Leben so einfach, Modelle anwendbar und helfen dabei, persönliche Verantwortung in eine diffuse Masse von Mittätern zu verschieben. Was dabei leider auf der Strecke bleibt, ist das, was das Leben lebenswert macht: Individualität, Unikate und Momente. Dinge, die uns erst zu Menschen machen und von funktionierenden Maschinen unterscheiden.

In meinem Leben möchte ich keine Statistenrolle übernehmen, sondern aktiv meinen Traum von einer gerechten, internationalen Gesellschaft verfolgen, und dazu muss eine Wandlung in den Köpfen stattfinden.

Wir können jeden Menschen verstehen und mit jedem ist ein Dialog möglich. Dazu müssen wir nur konstruktiv miteinander umgehen. Kritik ist kein Angriff, sondern eine Entwicklungshilfe. Es ist auch gewinnbringend, sich einmal mit grundlegenden Begriffen wie zum Beispiel «Kapital» und «Nationalität» näher zu beschäftigen, denn wer die grundlegenden Begriffe seiner Weltordnung noch nie hinterfragt hat, kann sich ihrer ja nicht besonders sicher sein.

Unsere Ideale und Weltbilder entwickeln sich nur durch die Konfrontation mit Neuem, und genau deshalb bin ich hier. Denn auch wenn es derzeit an allen Ecken und Enden brennt und reisst, sitzen wir doch alle im selben Boot. Ich bin mir sicher, dass jeder auf seine Art eine Vision von einer besseren Welt entwickelt hat, und ich hoffe, dass jeder möglichst weit bei ihrer Umsetzung kommt. Jeder Einzelne kann Unglaubliches verändern. Gandhi, King und Mandela waren auch nur Menschen, und doch haben ihre Ideen eine Energie entwickelt, die die Weltgeschichte verändert hat. Ich wünsche jedem von uns dasselbe.


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