«Den ganzen Körper einmal gesehen haben»

Leonardo da Vinci musste seine anatomischen Skizzen unter widrigen Umständen anfertigen – ohne richtiges Werkzeug und Anleitung. Wie angenehm haben es da heutige Medizinstudierende. prisma hat sie besucht.

In Gruppen zu acht stehen sie um die Leiche. Die Körper sind schon grösstenteils präpariert: Die Haut ist bereits entfernt worden, ebenso das Fett. Die Leiche liegt auf dem Bauch, da gerade die Rückenmuskulatur besprochen wird. Der Rest des Körpers ist mit einem Tuch verhüllt. Das Tutorat der Klinischen Anatomie findet jeden Freitag statt, von Montag bis Mittwoch wird präpariert. Während zwei Semestern arbeiten die Studierenden am gleichen Körper. Auf die Frage, ob sich der Körper denn so lange halte, wird mir lächelnd erklärt, dass er derart mit Formalin und anderen Chemikalien behandelt wurde, dass er sich bis zu drei Jahre halten würde. Das erklärt auch den chemischen Duft, der durch den Raum weht – Verwesungsgeruch kann hier nicht aufkommen.

Den ganzen Menschen sehen

Es ist schwer vorstellbar, dass dieses «Anschauungsobjekt» auf dem Metalltisch früher einmal ein lebender Mensch war. Zu Beginn des letzten Semesters waren die Leichen zwar bereits mit den verwesungsprozess-stoppenden Chemikalien behandelt, aber ansonsten vollständig intakt. «Die Studierenden sollen in diesem einen Jahr jede Struktur des menschlichen Körpers sehen, die es zu sehen gilt», so Prof. Dr. Dr. Ullrich, Professor für Anatomie an der Universität Zürich.

Eine 148-seitge Anleitung soll den Studierenden die nötigen Grundlagen vermitteln, ihnen klare Anweisungen geben, wie was präpariert werden soll und in welcher Reihenfolge vorgegangen wird. «Die Haut wird von der Mittellinie nach lateral bis zum Trapeziusrand abpräpariert und bleibt dort hängen.» – so die erste Arbeitsanweisung an die Studierenden. Doch wie ist es wirklich, wenn man den ersten Schnitt setzt? Schirin, Medizinstudentin im vierten Semester, erinnert sich gut an ihren ersten Tag im Präparierkurs: «Am Anfang waren wir alle etwas nervös. Nicht unbedingt wegen der Arbeit an der Leiche selbst, sondern auch, weil wir nicht wussten, welche Erwartungen an uns gestellt werden würden.» Ekel habe sie dabei vielleicht nur am Anfang empfunden, meint Patricia, die in Basel Medizin studiert: «Am Anfang dachte man vielleicht kurz «Igitt!», aber nach zwanzig Minuten war man bereits völlig darauf konzentriert, nicht zu viel abzuschneiden und alles richtig zu machen.»

Grenzen überschreiten

In keinem Moment könnte man nackter sein, als wenn man tot auf einem Metalltisch liegt und darauf wartet, präpariert zu werden. Und auf der anderen Seite stehen junge Studierende, die einen toten Menschen aufschneiden, sein Innerstes vollständig ergründen und jede Grenze der Intimität des Toten überschreiten müssen. Neben dem fachlichen Wissen soll der Kurs auch Lernprozesse in Gang setzen, die dabei helfen, mit dem ständigen Überschreiten der Intimgrenzen umzugehen. Ein Arzt muss tagtäglich seine eigenen natürlichen Grenzen und die seiner Patienten überschreiten. Er muss sie, um sie zu behandeln, an Stellen berühren, die im alltäglichen Umgang miteinander nicht berührt werden würden. Aus diesem Grund werden bereits zu Beginn des Studiums die ersten Hemmschwellen und Barrieren im Kontakt mit anderen abgebaut. Bei einem Untersuchungskurs zum Bewegungsapparat müssen die Studierenden sich gegenseitig abtasten und die Bewegungen aneinander erlernen. «Ich glaube, wir untereinander sind uns näher. Man zuckt nicht mehr zusammen, wenn man zufällig berührt wird. Auch stört mich das Gedränge im Bus nicht mehr, da war ich früher definitiv empfindlicher», meint Schirin lachend. Sie habe zwar keine Berührungsängste mehr, die baue man ja gleich zu Beginn ab, dennoch hätte sie immer noch etwas Scheu davor, das Gesicht und das Gehirn zu präparieren, meint Patricia. «Ganz ehrlich – diese beiden Körperteile sind so viel persönlicher als der Intimbereich!»

Lehrmittel und Mensch zugleich

Neben den Grenzen, die überschritten werden müssen, ist bereits das Wissen, dass man an einem Menschen arbeitet und dass dieser auch noch tot ist, «eine abstrakte Situation». So war denn auch Schirins Verhältnis zu der Körperspende ein geteiltes: Bei der Arbeit an nur einem Körperteil, beim vollständigen Fokus auf das Freilegen einzelner Nerven des Unterarms beispielsweise, verschwand das grosse Ganze. Trat man aber einen Schritt zurück, sah man wieder den Körper und den Menschen, den er einmal gewesen sein musste. Ähnlich ging es auch Tanja, die ebenfalls gerade den Präparierkurs der Uni Zürich absolviert: «Findet man im Körper Anomalien und Besonderheiten, zum Beispiel Operationsnarben, wird einem wirklich bewusst, dass dieser Körper einmal gelebt und etwas erlebt hat.» Für Patricia ist es eine Balance – man muss das Präparat als Lehrmittel ansehen, sonst kann man nicht damit arbeiten. Dennoch hat der Respekt für die Körperspende für sie oberste Priorität.

In all den Jahren ist denn auch Prof. Dr. Dr. Ullrich nie ein Student begegnet, der den Körperspendern nicht mit dem nötigen Respekt entgegengetreten wäre: «Überraschenderweise werden die natürlichen Schamgrenzen immer so weit als möglich bewahrt. Es wird oftmals nur der Teil des Körpers aufgedeckt, an dem gerade gearbeitet wird. Der Genitalbereich zum Beispiel wird praktisch nie enthüllt, wenn dies nicht notwendig ist.»

Seinen Körper geben

Schirin meint dazu auch, dass allen im Kurs bewusst sei, dass diese Menschen ihre Körper gespendet haben, aus dem Wunsch heraus, dass sie, die Studierenden, etwas lernen können. «Deshalb betrachte ich es auch als meine Aufgabe, dafür zu sorgen, alles richtig zu machen und zu schauen, dass es dem Körper möglichst gut geht.» Das sieht man auch während des Tutorats. Als dieses zu Ende ist, werden die Leichen mit Flüssigkeit eingesprüht und dann wieder vorsichtig eingewickelt und verpackt. Der Umgang ist sehr professionell, die Stimmung aber dennoch locker und angenehm. So kann nicht oft genug betont werden, wie wichtig Respekt und ein bewusster Umgang mit dem Präparat für diesen Kurs sind. Bereits während der Einführungsveranstaltung und in der Präparieranleitung werden die angehenden Mediziner darauf hingewiesen, den Körperspender wie einen Patienten zu behandeln, sich aber nicht bedrückt zu verhalten – «Ihr Körperspender war möglicherweise ein fröhlicher Mensch und hat viel und gerne gelacht.»

Aber wer sind diese Menschen, die ihre Körper der Wissenschaft und den angehenden Ärzten zur Verfügung stellen? Die Spende geschieht wohl aus dem Wunsch heraus, nach dem Tod noch etwas Gutes zu tun. Ohne diese Körperspenden wäre eine seriöse und professionelle Ausbildung in den Augen von PD Dr. Rühli kaum möglich: «Diverse Universitäten, zum Beispiel in den USA, haben das Präparieren stark reduziert oder abgeschafft und arbeiten nur noch an vorpräparierten Modellen oder digitalen «Leichen». Die Form eines Körpers, wie er von aussen und innen aussieht, was wie zusammenhängt, das kann man zwar theoretisch und an einem guten digitalen Modell lernen; den echten Kontakt, die Dreidimensionalität, die Qualität von Strukturen kann man aber virtuell kaum erfassen.» Die verbleibenden Gewebe, die nach dem Kurs noch vorhanden sind, werden übrigens kremiert und auf dem Ehrengrab des Anatomischen Instituts in Zürich begraben.

Sie würde ihren Körper durchaus als Körperspende zur Verfügung stellen, hofft aber, dass das nicht der Fall sein wird, meint Schirin. «Ich habe einen Organspendeausweis und habe angegeben, dass man alles von mir verwenden kann. Aber sollte ich zu alt sein oder zu krank, um zu spenden, dann käme eine Körperspende durchaus in Frage.» Auch Prof. Dr. Dr. Ullrich würde seinen Körper zur Verfügung stellen, allerdings nicht in Zürich: «Ich würde nicht wollen, dass jemand meinen Körper präparieren muss, der mich schon zu Lebzeiten kannte. Da würde die private Beziehung zu stark der professionellen überwiegen, das möchte ich niemandem zumuten.»


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