Denken und Glauben

Ist der religiöse Glaube irrational und altmodisch? Ist einzig «denken» vernünftig, nicht aber «glauben»? Matthias Erny macht sich Gedanken zu «Denken und Glauben», einem Themengebiet, das gegenwärtig in religiösen, aber vor allem auch in wissenschaftlichen Kreisen viel diskutiert wird.

Kants Credo der Aufklärung «Wage zu wissen!» (sapere aude) lehrt uns, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und sich von allen (geistlichen) Obrigkeiten abzuwenden. Nach Kant sollen sich die Menschen aus der «selbstverschuldeten Unmündigkeit» befreien. Die Aufklärung hat unser heutiges Denken nachhaltig geprägt. Der religiöse Glaube wird daher häufig als irrational und zeitwidrig bezeichnet. Der Gläubige zeichnet sich durch sein blindes, unüberlegtes Vertrauen in eine höhere, nicht fass- oder messbare Macht aus. Diese vorherrschende Meinung nimmt an, dass nur das vernünftige Nachdenken zu sicherem Wissen führt, denn das Denken allein ist vernünftig, der Glaube ist vages Vermuten und Hoffen. Es wird eine klare Trennung zwischen Denken und Glauben vorgenommen. Das Aufkommen der Naturwissenschaften hat diese Denkweise unterstützt. Die wissenschaftliche Erkenntnis baut auf den Methoden des Beobachtens, Experimentierens und Berechnens auf.

Trennen von Denken und Glauben?

Kann man Denken und Glauben wirklich trennen? Gibt es keine Gemeinsamkeiten? Die Wissenschaft beschäftigt sich mit einer Reihe von Fragestellungen. Bereits Aristoteles hat eine Unterteilung der Wissenschaftsbereiche vorgenommen und führt den Bergriff der Metaphysik (Dinge nach der Physik) ein. Die Wissenschaftsgebiete unterscheiden sich bei Aristoteles durch ihre unterschiedlichen Fragestellungen. Auch heute wird in verschiedenen Disziplinen nach Antworten gesucht. Jedes Wissensgebiet hat so genannte Fischernetze, mit denen «gefischt» wird. Es werden diejenigen Fische gefangen, die nicht kleiner als die Netzstruktur sind. So können uns die Natur- oder auch die Wirtschaftswissenschaften Antworten liefern, wie unsere biologische oder sozioökonomische Umwelt funktioniert. Die «kleinen Fische» werden jedoch nicht behandelt. So bietet die Wissenschaft keine Antworten auf die Fragen nach der Ästhetik, der Ethik, der Liebe oder einem mit Sinn erfüllten Leben. Es ist unbestritten, dass die Wissenschaft die Menschheit weitergebracht hat. Friedrich Dürrenmatt weist mit seiner Tragikomödie «Die Physiker» auch auf die Gefahr der Wissenschaft hin. Das Theaterstück wurde in der Zeit des Kalten Krieges uraufgeführt, in der die Wissenschaft die totale Zerstörung sämtlichen Lebens durch die Entwicklung der Atombombe ermöglichte. Die Erfahrungswissenschaften können uns Handlungsanweisungen geben, wie wir etwas umsetzen können. Die Frage nach dem «guten» oder «sinnvollen» Umgang beantwortet uns die Wissenschaft jedoch nicht. Das Leben konfrontiert uns aber mit Fragestellungen, die nicht allein mit wissenschaftlichen Methoden erschlossen werden können. Das wissenschaftliche Denken und der Glaube unterscheiden sich demnach in der Art der Fragestellung. Sie beide sind Bestandteile unseres täglichen Lebens.

Ohne Glaube keine Wissenschaft

Die Trennung zwischen Wissenschaft und Glauben kann nicht konsequent verfolgt werden. So hat zwar der Soziologe Max Weber von «werturteilsfreier Wissenschaft» gesprochen und eine Trennung von Wertung und Wissenschaft vorgenommen. Das hat dazu geführt, dass heute «wertfreie» Wissenschaft betrieben wird. Aber was ist denn das? Es ist ein Glaubenssatz. Wissenschaftlich kann dieser nicht begründet werden. Die «wertfreie» Wissenschaft basiert auf Annahmen. Diese Annahmen sind eine Conditio sine qua non. Ohne Annahmen kann keine Wissenschaft betrieben werden. Letztlich sind Annahmen aber Glaubensgrundsätze, die wissenschaftlich nicht weiter überprüft werden. Es handelt sich um einen Konsens der Wissenschafter – eine gemeinsame Sprache. Das heisst, bevor man Wissenschaft betreiben kann, muss man etwas glauben – annehmen –, damit man mittels Verstand zu Wissen gelangt. Eine konsequente Trennung zwischen Denken und Glauben kann daher nicht vollzogen werden. Jeder Mensch – ob gläubig oder nicht – hat gewisse Grundsätze, die sein Denken und Handeln ausmachen. Sie bestimmen sein Weltbild. Wer also nicht an einen biblischen Gott glaubt, glaubt nicht nicht. Es geht daher nicht darum, ob ich denke oder glaube, sondern ich muss mich damit befassen, was ich glaube.

Denken, ein täglich Brot der Gläubigen

Der Glaube erfordert aber auch das Denken. Im christlichen Sinn glauben heisst nicht, allem blind zu vertrauen und alles anzunehmen. Auch als gläubiger Mensch muss ich mir immer wieder die Frage stellen, ob das, worauf ich mein Leben setze, nachvollziehbar (logisch-analytisch) ist oder mich mit Sinn (emotional-spirituell) erfüllt. Dabei eröffnet der Glaube zwei Dimensionen: Zum einen ist es das Vertrauen – in eine Sache – und zum anderen ist es die Zuverlässigkeit.
Als gläubiger Mensch muss ich die Zuverlässigkeit, z. B. der Bibel, für mein Leben überprüfen. Im Neuen Testament beweist Jesus Christus durch sein Leben, Wirken und Sterben Gottes Liebe zu den Menschen. Jesus Christus ist zu den Menschen gekommen – er ist der «heruntergekommene» Gott. Dieser Akt zeigt uns die Wichtigkeit, die Gott uns Menschen beimisst. Wir sind nicht bloss ein Klumpen Materie, der ein Zufallsprodukt darstellt. Aus dem Zufall kann kein Sinn abgeleitet werden. Gott verleiht dem Individuum eine Bestimmung und stattet es mit Würde aus. In Gottes Augen ist der Mensch ein geliebtes Wesen. Gott macht keine Ausnahmen, seine Zusagen gelten für alle Menschen. Die Liebe Gottes gibt Orientierung im Umgang mit den Mitmenschen.
In Gott finde ich einen Anfang, ein Ziel und eine Erklärung des Lebens – nicht nur des biologischen Lebens. Der Glaube an diesen Gott erfüllt mich mit Sinn, Kraft, Hoffnung und gibt mir Freude zum Leben.
Zum Glauben gehört auch das Vertrauen. Ich muss mich auf das Wagnis mit Gott einlassen. Das Denken führt mich zwar zur Erkenntnis, dass Gott «denkbar» ist. Zu dieser Erkenntnis kann ich auch ohne Glauben gelangen. Um mich auf die Dimensionen des Glaubens einzulassen, muss ich mich irgendwann einmal loslassen und mich Gott hingeben; das bedarf aber des Vertrauens. Das ist wie in einer zwischenmenschlichen Beziehung. Wenn ich meinem Gegenüber kein Vertrauen entgegenbringe und von diesem kein Vertrauen erhalte, lasse ich mich nicht auf die Beziehung ein. Ich werde auch nichts von mir selber preisgeben. Jede Beziehung überprüfen wir Menschen kritisch und wägen das Vertrauen und Misstrauen ab. Ein Akt des (Nach-)Denkens. Es gibt jedoch viele Menschen, die in diesem Stadium stehen bleiben, und so entsteht die Beziehung gar nicht erst. Das Stadium des Zweifelns. Die unterschiedlichen Dimensionen einer Beziehung können erst erschlossen werden, wenn ich mich darauf einlasse. Im christlichen Glauben ist es dasselbe. Das Wesen und Sein von Jesus Christus kann nicht wissenschaftlich erschlossen werden. Erst der Glaube an Gott macht das Erleben möglich. Dann werden die Dimensionen des Glaubens erschlossen. Das Denken darüber ist unabdinglich. Denken ist also nicht nur die Grundlage der Wissenschaft, sondern ist auch ein christliches Prinzip und täglich Brot des Gläubigen.


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