Niemand will scheitern. Und doch tun wir es tagein, tagaus. Was wir daraus lernen sollten.
Der grosse und weitsichtige Willy Brandt hat es einst so formuliert: «Jemand, der über sein Leben nur Gutes zu sagen weiss, lügt, weil jedes Leben von innen her gesehen nur eine Kette von Niederlagen ist». Die Richtung stimmt. Auf das eigene Leben als eine Reihe von Erfolgen zurückzublicken, erscheint fürwahr wenig hilfreich, zumal ein solcher Rückblick nie frei von Selbsttäuschung ist. Die Knacknuss ist die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten.
Scheitern als Kurskorrektur
Warum also nicht – um diese Gefahr der Überhöhung zu umschiffen – einmal unsere Biografie anhand der erlittenen Misserfolge und Niederlagen betrachten? Nicht der Selbstkasteiung wegen. Im Gegenteil: Indem wir nämlich Scheitern als Chance nehmen, uns selbst einmal unverklärt in die Augen zu schauen. «An Niederlagen wächst man», heisst es im Volksmund. Und doch quält uns die Angst vor dem Versagen immer wieder von Neuem. Klar, denn die Wahrheit ist: Niemand mag es, wenn die Dinge schiefgehen und man auf die Nase fällt. Niemand gibt gerne zu, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, an einer Aufgabe gescheitert zu sein oder gar ein ganzes Projekt in den Sand gesetzt zu haben. Ein Ziel zu verfehlen, ist ärgerlich und nagt am Ego. Es zieht runter, macht traurig, verunsichert. Scheitern ist schmerzvoll, oft peinlich und meistens demoralisierend. Dennoch sind solche Erfahrungen unausweichlich – und oft lehrreich. Manchmal markieren sie sogar auch den Beginn einer längst fälligen Verwandlung, die einzige Chance zur Einsicht und zum Innehalten in einem Prozess der Entfremdung. Denn wir sind derzeit so eingebunden in dieses erfolgsorientierte Denken, dass wir selbst bei der Suche nach Kontemplation und innerem Frieden, dass wir selbst bei dem Versuch, dem Leistungsdruck zu entfliehen, eben den Strukturen verfallen, die wir meiden wollen. Wir suchen Befreiung und bedienen uns dazu genau der Fesseln, von denen wir uns befreien wollen. Doch was für eine Chance kann eine Krankheit sein, eine Niederlage zur rechten Zeit, eine Trennung von einem geliebten Menschen? Meistens kommt der Anstoss für eine Kurskorrektur im eigenen Leben doch durch einen unvorhergesehenen Schicksalsschlag. Nicht selten führen erst viele Fehlschüsse zu grossen Entdeckungen. Denn jede Niederlage ermöglicht es, die eigene Biografie in einem anderen Licht zu sehen. Erlebtes verwandelt sich so plötzlich mit dem jeweiligen Stand des Bewusstseins.
Lebenswertes Scheitern
Wir müssen anfangen, unser Leben als eine sich immer wieder verändernde Skizze zu begreifen, als Entwurf eines Lebens, dessen Konzept sich uns nie richtig erschliessen wird. Als Annäherung an eine grosse Idee, die ihren Sinn als ständig unbeantwortete Frage in sich birgt. Damit wir an Niederlagen wachsen können, müssen wir richtig mit ihnen umgehen. Der Schlüssel liegt meines Erachtens in der Interpretation eines negativen Ereignisses. Das heisst: Fehler anerkennen, aber seinen Selbstwert nicht ans Richtigmachen schnüren – das ist die Kunst. Denn Fehler zu machen, gehört zur Entwicklung des Menschen. Am Schluss sind die wenigen lebenswerten Augenblicke unseres Lebens wie Goldkörnchen im Sand. In den Augenblicken unserer grössten Verzweiflung sind wir aber stets wesentlicher und lebendiger und näher an dem, was unsere Welt im Innersten zusammenhält. Das hilft, uns darauf zu fokussieren, worauf es wirklich ankommt im Leben. Na also. Scheitere. Scheitere heilsam. Probiere etwas Neues, entwickle dich weiter. Denn es ist tatsächlich wahr: Fehler stärken die geistigen Wurzeln.
Illustration Janina Abrashi