Nicht unweit des hektischen Treibens städtischen Daseins, nur 20 Autominuten von unserer Ostschweizer Metropole ent- fernt, entfaltet sich eine Idylle, welche bis heute dem Cover verschiedener Geografie-Magazine würdig ist. Freche Zungen behaupten ja, im Appenzell lebten mehr Kühe als Menschen – ob dies eine so abscheuliche Vorstellung ist, sei hier dahingestellt. Wie erfrischend doch der Gedanke, des Öfteren den sanften Kulleraugen eines gutmütigen Wesens zu begegnen – nichts gegen die Menschheit, die jedoch solche Eigenschaften eher seltener trägt.
Nicht nur Fauna findet sich auf saftigen Wiesen und an besonnten Waldrändern, sondern auch eine Flora aus duftenden Kräutern und knorrigen Wurzeln, welche seit Jahrhunderten Naturheilpraktiker scharenweise in die Appenzeller Berge treibt.
Nebst all den genannten blühenden Eigenschaften ist es vor allem eine rechtliche, die den Kanton für die Alternativmedizin so anziehend macht. Das abgelegene Fleckchen Erde wurde schon früh Pionier in diesem Bereich – genauer gesagt seit die Landsgemeinde 1871 die freie Heiltätigkeit beschlossen und verfassungsrechtlich verankert hat, während diese in den anderen Kantonen noch verboten war. Mit nun unein- geschränktem Handlungsspielraum hat sich also ein Heilerparadies oh- negleichen entwickelt. Doch was ma- chen die da drüber überhaupt so?
Ein Dschungel an Begriffen und Methoden
Die Begriffe «Alternativmedizin», «Komplementärtherapie» oder «Naturheilpraktik» gehören einer weitreichenden Branche an, eine einheitliche Definition zu finden, gestaltet sich als schwierig. Schlussendlich zielen alle auf dieselbe Bedeutung ab: Die Kräfte der Natur für die Gesundheit nutzbar zu machen.
Unbestreitbar ist aber der Boom, der diese frühere Nische der Medizin seit der Jahrtausendwende erfahren hat. Gab es vor zwanzig Jahren nicht einmal ein einheitliches Verzeichnis über Therapeuten und deren Methoden, findet man heute auf der offiziellen Webseite der Naturärztevereinigung professionell aufgegleist einen Link mit allen möglichen Therapiemethoden. Insgesamt 233 an der Zahl, alphabetisch sortiert und mit passenden Filtereinstellungen, um schon vor der persönlichen Beratung Einblick in individuell abgestimmte Methoden zu erhaschen. Von den gängigen, wie Aromatherapie und Akupunktur, über Klopf- und Klangtherapie bis hin zur abenteuerlich anmutenden TCM Moxa, welche mithilfe erhitzter Kräuter bei Beschwerden ausgelöst durch Kälte oder Feuchtigkeit helfen soll, ist für jeden Interessenten etwas vorhanden.
Qualitätssicherung
Im Erfahrungs-Medizinischen Register (EMR), der Grundlage dieser Übersicht, wurde ausserdem ein Qualitätslabel eingeführt, welches Kriterien für die Zulassung der Therapeuten aufführt. Darunter fallen unter anderem die theoretischen und praktische Ausbildung sowie Erfahrung und Weiterbildung. Das EMR Label ist bei den meisten Krankenkassen Voraussetzung, um einen Therapeuten und seine Heilmethoden durch die Zusatzversicherung abzudecken. Durch die grössere Abdeckung wird die breite Angebotspalette immer umfassender unterstützt und somit auch den finanziellen Aspekt solcher doch aufwendigen Sitzungen abfedert. Auch hier wird ersichtlich; Die Alternativmedizin hat heute einen neuen Stellenwert in der Bevölkerung, nicht nur im Appenzell. Dieser Trend wird an verschiedensten Meilensteinen festgemacht; 2009 ist ein Verfassungsartikel dazu angenommen worden, auf dessen Basis seit 2015 eine höhere Fachprüfung absolviert und ein eidgenössisches Diplom erlangt werden kann. Dies soll die Qualität der Behandlungen sichern und Ordnung schaffen in der weitreichenden Landschaft der Behandlungsmöglichkeiten.
Noch sind nicht alle Therapeuten an die Prüfung zugelassen; Abgedeckt werden vor allem die gängigen Bereiche wie Ayurveda oder Homöopathie, aber auch Yoga und Shiatsu-Therapeuten können nun ihr Wissen offiziell unter Beweis stellen. In der Hochburg Appenzell vertraut man heute noch immer auf die kantonal geregelte Prüfung, welche die Bereiche Anatomie, Pathologie, Naturheilkunde, Hygiene und Recht abdeckt. Die Frage ist heute, wie lange sich diese traditionsreiche Regelung halten kann und nicht von der eidgenössischen Berufsreglementierung überfahren wird. Vor allem in der Naturheilkunde und in der Komplementärtherapie wächst durch die neuen Diplommöglichkeiten die Anzahl der Heiler. Die Kombination aus Studium der Humanmedizin und Spezialisierung in Komplementärme- dizin hingegen hat heute zu kämpfen. So ist augenfällig; Gleich ist nicht gleich. Was von vielen in einen Topf geschmissen wird, sind eigentlich diverse Bereiche.
Kritische Stimmen
Der Ruf nach mehr Kontrolle scheint auf der Hand zu liegen, gab und gibt es doch bis heute kritische Stimmen, welche die gesamte Branche als Humbug abtun oder sogar davor warnen. Sehen die einen eine sanfte, natürliche Alternative zu Skalpell und aggressiven Nebenwirkungen schulmedizinischer Pillen, bezichtigen die anderen die Naturheilpraktiker der altmodischen Arbeitsweise und gefährlich schmerzhaften Behandlungen, die ins 19. Jahrhundert gehörten. Ein ganzes Buch darüber wurde von der ehemaligen – heute desillusionierten – Heilpraktikerin Anousch Müller geschrieben, in welchem sie Tipps zur Unterscheidung zwischen seriösen Medizinern und Hochstaplern gibt. Unter anderem soll der Therapeut nach bisherigen schulmedizinischen Behandlungen und Medikamenten fragen und nicht von selbigen abraten, sowie die Patientin an einen Arzt verweisen, wenn seine Methoden nicht helfen. Alarmzeichen seien (leere) Heilversprechen oder der Versuch zu missionieren. Seriöse Heiler hingegen würden Fragen bereitwillig beantworten, einen gründlichen Be- handlungsplan aufstellen und diesen sorgfältig befolgen und abrechnen.
Mut zum Selbstversuch
Wer den Aufwand scheut, sich vor Ort in die Hände eines Naturheilpraktikers zu begeben oder diesem alternativen Bereich der Medizin skeptisch entgegensteht, kann auch zuhause die Kraft der Natur nutzen, um die eigene Gesundheit zu optimieren oder bestimmte Leiden zu lindern. Solche Methoden sind zwar nicht alle medizinisch in Studien bewiesen, man sich aber nach dem Prinzip «hilft’s nichts, schadet’s nichts» durchprobieren. Da verschiedene Individuen auch unterschiedlich auf Behandlungen reagieren, stösst man vielleicht auf etwas, worauf man nachher schwören kann.
Einfach, wirksam und seit tausenden Jahren in der indischen Ayurveda bekannt ist zum Beispiel das Ölziehen, bei welchem man morgens einen Tee- bis Esslöffel – am besten reinen, kaltgepressten – Bio-Pflanzenöls, wie zum Beispiel Kokosöl (welches sich schon nur aufgrund des angenehmen Geschmacks empfehlen lässt) im Mund hin- und her spült. Diese doch gewöhnungsbedürftige Art in den Tag zu starten soll nicht nur die Mundhygiene auf Vordermann bringen, sondern auch eine ganze Reihe weiterer Krankheitssymptome wie Haarausfall, Verdauungsbeschwerden oder Hautausschläge lindern.
Eine andere, einfache Methode sich selbst etwas Gutes zu tun, sind Molkebäder. Einfach am Sonntagabend einmal zur Ruhe kommen, das Licht im Badezimmer dimmen, Molke (und potentiell Kaisernatron, welches den Körper remineralisieren und entschlaken soll) in einem warmen Vollbad zergehen lassen und die Wirkung der Milchproteine nachträglich auf der nun samtig weichen Haut spüren. Auch Bachblüten und Beruhigungskapseln aus Ginseng haben schon dem einen oder anderen Studierenden die Prüfungsangst genommen (Quelle: persönliche Erfahrung). Wieso also nicht einfach mal ausprobieren?