Die Schweiz: Bünzli-Hochburg oder Paradies auf Erden?

Jedes Land hat Vor- und Nachteile – so viel ist klar. Doch was hat die Schweiz zu bieten ausser Schokolade und Nummernkonten? Zwei unserer Autoren nehmen die Schweiz samt ihren Klischees ins Fadenkreuz.

Pro (von Fabian Liechti)

Der Schriftsteller Peter Bichsel schrieb einmal, dass man Schweizer im Ausland daran erkenne, dass sie in Warteschlangen vor Passkontrollen ihren roten Pass mit dem weissen Kreuz immer demonstrativ gut sichtbar in den Händen halten. Das wirkt zwar komisch, ist aber verständlich, denn das Kreuz steht für die zahlreichen Plus-Punkte der Schweiz! Hier die vier wichtigsten Gründe, weshalb auch Ausländer und Nicht-SVP-Wähler dem Charme der Schweiz verfallen (sollten).

Small is beautiful – das gilt auch für die Schweiz. Vom Flachland zu den Bergspitzen, vom warmen Lac Léman zum kalten Alpsee, vom winterlichen Matterhorn ins mediterrane Tessin ist es nur ein Katzensprung. Diese geografische Vielfalt auf so kleinem Raum macht aus der Schweiz ein Bewegungsparadies: Ob Wasserskifahren bei 30 Grad oder Alpin-Ski bei minus 10 Grad – in der Schweiz ist (fast) alles möglich. Zugegeben: Die Schweiz ist kein Windsurfer- Paradies; doch wer braucht schon ein Meer, wenn er in Seen und Flüssen baden kann, die aus kristallklarem Alpen-Quellwasser gespiesen werden?

Jeder ein bisschen, niemand zu viel – das ist der Schweizer Föderalismus. Hier möchte ich nicht tot über dem Zaun hängen – das haben sich wohl schon manche Schweizer gedacht, wenn sie irgendwo im Ausland durch eine heruntergekommene Region gereist sind. Und einige Tage später kamen sie in der prunkvollen Hauptstadt an, wo sich alles Leben konzentrierte. Das erlebt man in der Schweiz nicht: Nur ein kleiner Teil des Lebens spielt sich in Bern ab – ein grosser Teil ganz in der Nähe der Bewohner. In Dörfern wie Uzwil haben Weltmarktführer wie Bühler AG ihren Hauptsitz. Und Universitäten mit Weltruf sind in peripheren Städten wie St. Gallen. Auch das abgelegenste Dorf ist noch mit dem öffentlichen Verkehr erreichbar. Föderalismus nennt man das und es wird nirgends so erfolgreich gelebt wie in der Schweiz. 26 Kantone, vier Sprachen und über 150 Jahre friedliches Zusammenleben – durchwegs ein Benchmark.

Politiker ohne Starallüren – das Volk ist der Star. Beim Zürcher Filmfestival 2012 hielt ein Schweizer Regierungsmitglied die Eröffnungsrede. Alle hielten sich an den Dresscode Black Tie. Nur der Bundesrat erschien in grauem Anzug mit roter Krawatte und sorgte wegen seines schrecklichen Englischs für Gelächter. Schweizer Politiker sind an solchen glamourösen Veranstaltungen definitiv am falschen Ort. Aber gerade das macht unsere Politiker sympathisch: Vor dem Bundeshaus in Bern fahren keine Limousinen mit Bodyguards vor und Sex- oder Korruptionsskandale sucht man vergebens. Passiert in der Schweizer Politik denn nie etwas Spannendes? Doch, bei jeder Volksabstimmung: Die Bürger haben in jeder Sachfrage ein Vetorecht. Kein anderes Land nimmt die Bedeutung von Demokratie so stark beim Wort.

Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit – dieses arabische Sprichwort bringt das Klischee über die Schweizer auf den Punkt: pedantisch organisiert und krankhaft pünktlich. Jedes Klischee hat ein Körnchen Wahrheit. Treffen sich vier Schweizer um 20 Uhr zum Bier, sind drei schon einige Minuten zu früh dort und der Vierte entschuldigt sich, dass er zwei Minuten Verspätung hat. Aber das ist toll, denn es bleibt Zeit für wichtigere Dinge als nerviges Warten: Die Schweiz ist das Land mit der höchsten Anzahl an Nobelpreis- Trägern pro Kopf unter allen Industrienationen. Aber die Schweizer können nicht nur arbeiten, sie können auch feiern: Nirgends gibt es eine so hohe Open-Air- Festival-Dichte wie in der Schweiz! Dieser Rekord sollte auch die kritischsten Studenten überzeugen, ein Glas auf die Schweiz zu trinken …

Contra (von Gabriel Züllig)

Dieses Contra lassen wir erst in seiner zweiten Hälfte beginnen. Denn – sind wir ehrlich – wenn der gemeine Schweizer etwas sagen will, beginnt er nach dem typischen «Grüezi» erst einmal mit einem grooossen Bogen, mit vielen «Ähhhms» und «Ähäääms». «Hätten Sie die Freundlichkeit, mir bei Gelegenheit und – äääääähm – sofern Sie Zeit haben, eine Bratwurst zu geben?», heisst es dann. Mal abgesehen davon, dass der blosse Akt, eine St. Galler Bratwurst zu kaufen, bereits den verstauchten Geschmackssinn der Eidgenossen beweist – schliesslich handelt es sich bei besagter lediglich um durch den Wolf gepresste und in Darm abgefüllte Schweine und Kälber –; aber nein, man kann nicht einfach, wie es sogar jeder Deutsche hinkriegt, über den Tresen rülpsen: «Ich kriech’ ’ne Bratwurst».

Und überhaupt, der Schweizer hält sich doch für so viel kultivierter, dass er überhaupt nie seine Meinung äussert, nie aneckt, nie auffällt. Immer schön in Deckung bleiben, sich irgendwie durchquetschen, flexibel durchmogeln. Nein, er ist nicht Meinungsführer, nicht der Klassenclown im Klassenzimmer der Weltgemeinschaft. Er ist der pingelige Streber, der verzweifelt versucht, in der grossen Masse unterzugehen. Immer schön im Durchschnitt bleiben und den Waschplan pedantisch genau einhalten, dann wird schon nichts passieren …

Weil es dem Schweizer untersagt ist, ausserhalb des geschützten Raums eines rauchigen Stammtischs seine Meinung offen zu sagen und er sich an das Bünzli- Durchschnittsprinzip halten muss, kann er seine rustikale Natur nur viermal jährlich an der Urne zum Ausdruck bringen. Junge, dann aber richtig! Dann wird die Classe politique mit der Peitsche des politisch Inkorrekten gegeisselt bis sie blutet, die vermeindliche Alpenidylle um jeden Preis schöngedichtet. Mit der EU wird kurzerhand die Quelle des eigenen Wohlstands in ihre Schranken gewiesen, ökonomische Gesetze von links und rechts ausser Kraft gesetzt und, ganz wichtig, der Bau von Türmchen verboten. Denn alles Aussergewöhnliche muss dem Erdboden gleichgemacht werden! Ausländer gehören vor die Tür, versteht sich; die Gemüter spalten sich lediglich bei der Frage, ob reiche Ausländer auch zur Gruppe der Ausländer gehören. Das Resultat ist, dass wir bis unter die Schädeldecke bewaffnet sind und uns trotzdem keiner ernst nimmt und dass wir mit unseren Gesetzen jahrzehntelang deutsche und amerikanische Staatskassen ausgesogen haben wie die Vampire.

Überhaupt, das Geld. Jeder hat es, keiner spricht darüber. Aber kein Volk versteht es wohl besser, aus allem und jedem Profit zu schlagen. Deutsche Steuerbetrüger? – Willkommä! Korrupte Politiker aus Frankreich? – Bien sûr! Schweizer Panzer für die blutrünstigsten Diktatoren dieser Welt – Warum nicht? Solange sie ihre prall gefüllten Geldköfferchen bei uns parken. Werte – Gerechtigkeit, Frieden, Solidarität – treten in dieser Logik des Mammon häufig genug in den Hintergrund. Stattdessen herrscht Opportunismus in Reinkultur. Entwicklungshilfe gibt’s nur, wenn wir uns damit weniger Flüchtlinge erkaufen können. Und die vor Dreck triefenden Konten Mubaraks wurden erst gesperrt, als klar war, dass er den Arabischen Frühling politisch nicht überleben würde.

Zu guter Letzt: Der gemeine Eidgenosse – so tapfer er sich einst gegen die Habsburger und später (vermeindlich) gegen die Nazis zur Wehr setzte – ist heute feige wie Sau. Deshalb schüttet der Schreibende jetzt Asche über sein Haupt und beteuert, dass die vorgeführten Argumente lediglich zum Zweck dieses Artikels zugespitzt wurden und die Schweiz seiner inneren Überzeugung nach doch ein wundervoller Ort zum Leben ist. Mea culpa!


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