Aliye, kannst du dich an deinen ersten Tag in der Schweiz erinnern?
Natürlich. Ich bin vor vier Jahren für meine damalige Arbeit in die Schweiz gereist. In hatte in meinem Heimatland Äthiopien eine Stelle als Finanzexperte und Berater in mehreren Regierungsämtern. Vor meiner Ausreise war ich ausserdem Abgeordneter im Parlament.
Du tauschst also den Sitz in der Legislative gegen die Holzbank im Hörsaal – warum wolltest du nochmals an eine Uni? Schliesslich hast du bereits einen Bachelorabschluss.
Ich habe hier keine Arbeitsstelle gefunden. Mein Diplom in Management wurde von der Rektorenkonferenz Swissuniversities zur Anerkennung empfohlen, doch im Rekrutierungsverfahren kann jedes Unternehmen selbst entscheiden, ob es meinen Abschluss gleich wertet wie ein Diplom einer europäischen Universität. Ich habe mich einerseits zum BWL-Bachelor angemeldet, weil ich mir gute Jobaussichten mit dem Abschluss verspreche. Andererseits hilft mir das Studium, meine Sprachkenntnisse zu verbessern und mich zu integrieren – und es ist ganz grundsätzlich eine spannende Horizonterweiterung. Auch falls ich nach dem Studium keine qualifizierte Arbeitsstelle finden sollte, hat sich die Mühe für mich persönlich auf jeden Fall gelohnt.
Wie unterscheidet sich die Universität St.Gallen von der Universität in deinem Heimatland?
Mein Studium in Äthiopien ist inzwischen über zehn Jahre her. Wir hatten nicht genügend Unterrichtsbücher, es gab noch keine Laptops und die IT-Infrastruktur an der Uni liess einiges zu wünschen übrig. Es war ein ganz anderes Lernen als heute hier in der Schweiz. Natürlich haben sich auch die Forschungsinhalte und -schwerpunkte verändert.
Du bist etwa zehn Jahre älter als die meisten deiner Kommilitonen. Wie erlebst du den Altersunterschied?
Für mich war das nie ein Problem. Ich mag meine Mitstudierenden. Trotzdem sind wir natürlich an einem anderen Punkt im Leben. Ich habe zwei Töchter und setze meine Prioritäten heute anders als noch Anfang 20.
Als erster Geflüchteter, der den Übertritt vom Schnuppersemester ins Regelstudium geschafft hat, bist du ein Pionier. Macht dich das stolz?
Noch nicht. Ich hebe mir den Stolz auf, bis ich das Studium geschafft und den Einstieg in den Arbeitsmarkt hinter mir habe.
Was empfiehlst du anderen Geflüchteten, die sich für ein Universitätsstudium interessieren?
Lernt so schnell wie möglich die Landessprache, denn sie ist der Schlüssel zur Integration. Erst wenn wir die Menschen um uns verstehen, ihre Kultur und ihre Geschichte kennen, finden wir unseren Platz in der Schweiz.
Fühlst du dich manchmal auf deine Herkunft oder deinen Aufenthaltsstatus reduziert?
Natürlich muss ich oft erklären, woher ich komme und warum ich hier studiere. Es überrascht mich aber nicht, dass ich andere überrasche. Wenn du in Äthiopien zur Uni gehen würdest, müsstest du ja auch ständig die gleichen Fragen beantworten. Das gehört nunmal dazu.
Was ist dein Traum für nach dem Studium?
Ich hoffe, ich finde einen Job, der mich interessiert. Heute würde ich gerne in den Bereichen Marketing oder Speditionslogistik arbeiten. Ausserdem möchte ich so schnell wie möglich finanziell unabhängig werden. Vor kurzem habe ich einen Nebenjob gefunden: Ich werde in Asylverfahren für das Hilfswerk HEKS im Rechtsschutzmandat dolmetschen. Ich spreche Deutsch, Englisch, Amharisch und meine Muttersprache: Oromo. Der Nebenjob ist ein weiterer Schritt in Richtung Unabhängigkeit.
Die Taskforce Migration der Universität St.Gallen wurde inzwischen eingestellt, weil es nicht genügend studierwillige Geflüchtete gibt. Wie wichtig war für dich die Hilfe der Uni?
Die Taskforce Migration hat mir 2017 die Tür zu einem Schnuppersemester geöffnet. Ich durfte einen Kurs über Supply Chain Management belegen und konnte mir Gewissheit verschaffen, dass ich wirklich ein Universitätsstudium aufnehmen möchte. Ohne die Beratung und Unterstützung der Uni und des Hilfswerks HEKS hätte ich mein Studium nicht aufnehmen können.
Taskforce Migration eingestellt
2015 wurde die Taskforce Migration als «Drehscheibe für Flüchtlingsfragen» ins Leben gerufen. Unter anderem sollte sie den Studieneintritt von geflüchteten Menschen an der Universität St.Gallen vereinfachen. Vor rund zwei Jahren wurde die Taskforce eingestellt. Einige ihrer Aufgaben konnten im Folgeprojekt «Social Innovation Initiative» (SINI) bis im Herbst 2018 weitergeführt werden. Heute gibt es keine Stelle in der Universitätsadministration mehr, die ausschliesslich für Anfragen von Geflüchteten vorgesehen ist. Claudia Franziska Brühwiler, ehemalige Leiterin der Taskforce Migration, begleitet Interessierte allerdings weiterhin.
Über 100 Schnupperstudierende an den Universitäten Zürich und Basel
Aliye Ahmed ist der einzige von zwölf Geflüchteten, der nach dem Schnuppersemester das Regelstudium an der Universität St.Gallen aufgenommen hat. Zum Vergleich: An den Universitäten Basel und Zürich haben seit 2016 je über 50 Geflüchtete an einem Schnupperstudium teilgenommen. In Basel schafften sieben Geflüchtete den Übertritt ins Regelstudium. Die Universität Zürich spricht von einer Übertrittsquote von 20 Prozent. Der Grössenvergleich der Institutionen und die verschiedenen Studienangebote erklären die Unterschiede teilweise. Ausserdem sind die Integrationsprogramme unterschiedlich aufgebaut und geleitet.
Aktiv werden
Studierende der Universität St.Gallen, die einen Beitrag zur Integration von Geflüchteten leisten möchten, können sich im Verein «Youth Engagement» engagieren. Je nach Interesse und Studienhintergrund führen Studierende Rechtsberatungen für Geflüchtete durch, erstellen Marketingkonzepte für NGOs, unterrichten eine Sprache, leiten ein Sportprogramm oder arbeiten in der Strategiegestaltung des Vereins mit.
Beratung für hochqualifizierte Geflüchtete
Die HEKS-Fachstelle «MosaiQ» berät Zugewanderte aus Drittstaaten, die in der Schweiz eine Ausbildung absolvieren, abschliessen oder anerkennen lassen möchten. «Die HSG verschenkt ihre Abschlüsse nicht. Wer einen will, muss hart dafür arbeiten. Das gilt für Zugewanderte genauso wie für Einheimische. Die Rahmenbedingungen für Geflüchtete an der Universität St.Gallen sind hart aber fair», sagt Jelena Milošević, Leiterin Fachstelle HEKS MosaiQ Ostschweiz.