Einheitsdorf

Der Funktionsbau erobert das Land und lässt die Menschen in Hässlichkeit zurück

Ich selbst stamme aus einem kleinen Ort in Bayern. Es schimpft sich zwar Stadt, aber ganz objektiv muss man feststellen, es ist ein Dorf. Dafür sprechen jedenfalls der hohe Stellenwert der Freiwilligen Feuerwehr im gesellschaftlichen Alltag, die Abwesenheit des öffentlichen Nahverkehrs am Tage des Herrn sowie die vielen leeren Wodkaflaschen am Bushäuschen an einem Samstagmorgen. 5000 Einwohner verströmen eben keinen allzu urbanen Glanz. Und trotzdem hat man es gern, denn man kommt ja von dort.

Wenn man Max Frisch folgt, dann hat Heimat sehr viel mit dem geografischen Ort zu tun, aus dem man stammt. Und jeder, der ab und zu seine Eltern besucht, kennt wohl das Gefühl, das sich einstellt, sobald man die ersten altbekannten Häuser wiedersieht oder durch Strassenzüge fährt, in denen man früher gerne Fussball gespielt hat. Als ich jedoch vergangenes Weihnachten das erste Mal seit Monaten wieder in meinen Heimatort kam, fiel mein erster Blick nicht wie üblich auf den gelben Kirchturm, sondern vielmehr auf einen neongelben Betonkasten, der plötzlich am Ortseingang stand. In wenigen Wochen wurde dort ein unbeschreiblich hässlicher Funktionsbau errichtet, der auf Liebhaber von Autoersatzteilen wie ein Schlaraffenland wirken muss. Ein Schandfleck, der aus Gründen des günstigen Baulandes und der guten Verkehrsanbindung entstehen konnte. Aber womöglich werde ich mich auch an diesen Anblick gewöhnen, so wie ich mich schon früher an das direkt gegenüberliegende lokale Einkaufscenter gewöhnt habe, das mit so klangvollen Geschäften wie «kik-Textilien GmbH», «Hausler Getränkemarkt» oder «Norma – ihr Lebensmittel-Diskonter» eine Vielzahl von Kundinnen und Kunden beglückt, die in ihren spritsparenden Autos asiatischen Ursprungs vor der Ladentüre parken.

Im Ortskern hingegen zeigt sich bereits die drastische Konsequenz der Abwanderung hin zu den wellblechgedeckten Funktionsbauten am Ortsrand. Das einst stolze Bürgerhaus in der Ortsmitte steht leer und verfällt, in der ehemaligen Traditionsbäckerei gibt’s jetzt Döner und Pizza und die örtliche Bank sucht lediglich via Automat den persönlichen Kundenkontakt. Gähnende Leere wäre der passende Begriff, wenn man nach einer Floskel suchen würde. Doch mein Heimatort ist mit dieser Entwicklung nicht allein, überall geschieht diese Veränderung der Ortsstruktur, ob nun in Bayern oder in der Schweiz.

Natürlich versteht man als HSG-Student, warum das so ist, warum ein Funktionsbau auf der grünen Wiese wirtschaftlich ist und sich ein Bücherladen in der Ortsmitte nicht hält. Aber es ist einfach erschreckend, mit welcher Einfallslosigkeit sich die Dörfer immer mehr gleichen und mit welcher Beiläufigkeit die Bewohner ihre historisch gewachsenen Ortskerne verkümmern lassen. Vieles wird beliebig und austauschbar, alles muss sich der Bequemlichkeit unterordnen. Aber vielleicht muss man sich gar nicht so sehr wundern, denn schliesslich leben eben jene Bewohner selbst in Neubaugebieten, deren Einfamilienhäuser sich lediglich bei der Auswahl ihrer Türrahmenfarbe unterscheiden. Also wer weiss, vermutlich wird man später sogar selbst einmal beim Anblick des «kik»-Logos Heimatgefühle verspüren.


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