Jennifer Kahn macht sich Gedanken darüber, woran alles wir glauben. Sie schildert, wie wellenförmig und vergänglich unser Glaube oft ist. Und woran HSGler glauben. Und auch, warum nach einer Vorlesung alle mit ihren Fäusten auf die Tische klopfen.
Kaum ist er gefunden und gefestigt, da ist er auch schon wieder weg. So lange wir auch minutiös daran gearbeitet haben, so schnell wird manch ein Glaubensgebilde durch harte Fakten dem Erdboden gleichgemacht. Das ist nicht nur im religiösen Sinne gemeint. Wer hat sie nicht schon alle aufgegeben: die Zahnfee, den perfekten Partner, den Glauben an die eigene Unverwundbarkeit?
Ersatzreligionen
Solange uns die Realität mit ihrer granitartigen Keule noch keins übergezogen hat, konnten wir mit unseren Visionen ganz gut leben. Jedoch, je länger so ein Leben dauert, desto mehr Erfahrungen machen wir und desto mehr zu widerlegen sind wir in der Lage. Was bleibt, ist eine dünne Platte, geformt aus den letzten noch nicht widerlegten oder gar nicht widerlegbaren Erkenntnissen. Auf dieser wandeln wir, immer ahnend, dass dieses brüchige Fundament bei jedem bedrohlichen Wellengang nachgeben könnte.
Aber keine Angst, wir werden nicht ertrinken – Rettung naht! Überall in unserem Leben warten viel versprechende Ersatzreligionen auf uns. Sie machen uns gesünder, klüger, lassen uns besser aussehen, straffen unsere Falten – die Auswahl an käuflichen Wundermitteln à discrétion ist schier unbegrenzt. Blind vertrauen wir den Symbolen, die heilbringend aus den Regalen auf uns herabscheinen, und greifen zu – greifen nach der besseren Welt, die uns so oft durch unveränderbare Tatsachen verwehrt wird.
Der HSG-Glaube
In Konsumtempeln den Marketing-Gurus Geld zu opfern, ist ein Weg, seine Seele rein zu waschen – an die Uni zu gehen, ist ein anderer. Auch HSGler sind gläubige Menschen, sehr sogar. Nicht umsonst hat fast jeder eine grüne Bibel zu Hause. Jeden Tag pilgern wir zu unserem Wallfahrtsort und lauschen andächtig der Predigt unserer geistigen Führer. Sobald das letzte Wort in der Vorlesung gesprochen ist, klopfen wir ehrerbietend mit den Fäusten auf die Tische und verlassen unsere Kirche; viele im Glauben, etwas gelernt zu haben.
Nein, nicht alle glauben das. Viele sind aus anderen Gründen dort oben. Sie schätzen die Gemeinschaft, das Gefühl, einem wertvollen Kreis zuzugehören und nicht aussen vor gelassen zu werden. Doch das ist nicht genug. Innerhalb dieser stetig wachsenden Glaubensgemeinschaft wollen viele mehr sein als nur unscheinbare Schäfchen in einer grossen Herde. Von der Louis-Vuitton-Fraktion bis zum krampfhaften Individualisten findet sich fast alles in der grossen Masse von Glaubensbrüdern und -schwestern. Wir wollen nicht beten – wir wollen selbst angebetet werden. Jeden Tag preisen wir uns auf virtuellen Ego-Galerien und zeigen unseren Kommilitonen, durch welche wundersame rosa Brille sie uns bitte sehen und uns huldigen sollen.
Selbstkritik und Mass halten heben wir uns für die Midlifecrisis auf. Jetzt sind wir jung, schön, potent – und das darf der Welt nicht vorenthalten werden. Doch irgendwann ist auf dem Olymp kein Platz mehr für neue Götter, genauso wie im Audimax am Dienstagmorgen. Wir erkennen erneut die Endlichkeit der Wunder, die eine Bildungsstätte vollbringen kann; wir erkennen ihre inhaltlichen Macken und räumlichen Begrenzungen.
Wieder und wieder begeben wir uns auf die Suche nach Götzen und Prophezeiungen, suchen oder erfinden neue Riten und lauschen eindrücklichen Mythen, immer in der Hoffnung, dass die eine oder andere Entdeckung Bestand haben wird in unserem Leben. Freude und Enttäuschung wechseln sich ab wie Sonne und Regen. Der Weg ist das Ziel. Und wer das einmal erkannt hat, hat den Sinn der Glaubenssuche verstanden.