42 Jahre lang führten Dieter und Marlies Tschanz ihren Quartierladen in Rotmonten. Ihr Laden ist ein Relikt längst vergessener Servicekultur.
Es war ein kundenreicher Samstag im Tschanz, als plötzlich ein aufgebrachter Herr in den Laden stürmte: «Hilfe, meine Inge (Name geändert) steckt in der Badewanne fest! Ich schaff es nicht, sie allein herauszuziehen.» Seine Augen richteten sich auf Dieter Tschanz: «Können Sie mir bitte kurz helfen?»
Zugegeben, normalerweise würde man «seinen» Quartierladen in solch einer Angelegenheit nicht behelligen. Aber: Der Tschanz ist mehr als ein gewöhnlicher Quartierladen! Das Geschäft im Herzen Rotmontens wird nun seit über 42 Jahren von Dieter und Marlies Tschanz mit Leidenschaft, Freundlichkeit und Charme geführt und ist inzwischen zu einer Rotmontener Institution avanciert.
Ausschlaggebend für den Erfolg ist wahrscheinlich die Begeisterung, mit der Marlies und Dieter Tschanz ihr Geschäft führen. Diese Begeisterung reicht von der Herzlichkeit gegenüber den Kunden bis zu den hochwertigen Produkten. Gelächelt wird von Haus aus immer. Das steckt regelmässig auch die Kunden an. Unbestätigten Berichten zufolge, kann ein Tschanz-Besuch sogar die Laune in der Lernphase heben. Ob es nicht schwer falle, sich nach 42 Jahren dazu zu motivieren, jeden Tag aufs Neue zu lächeln, fragen wir sie. «Nein, nicht wirklich. Das hat nie Mühe gemacht. Sonst wär ich ja falsch hier», lacht Frau Tschanz. Für sie gehöre das dazu. «Im Gegenteil, es ärgert mich immer, wenn Angestellte in Restaurants schnippisch oder unfreundlich werden. Das muss nicht sein!»
Der Einkauf im Tschanz ist jedes Mal wie eine kleine Reise in die Vergangenheit, ein Stück Retrospektive auf eine gemütliche, vergessene Zeit. Gleichzeitig surreal und heimelig. Man betritt den Laden und fühlt sich in eine Zeit vor der Globalisierung versetzt, in der es kein auf Effizienz getrimmtes Supply-Chain-Management in der Lebensmittelbranche – pardon – Lebensmittelindustrie gibt, sondern nur den einen Laden des Vertrauens. Der, der alles hat, was man braucht.
Qualität vor Quantität
Dieter Tschanz ist ein Lebensmittelverkäufer der alten Schule. Stets im makellos weissen Kittel ist er ein kritischer Detaillist, der hochwertige Produkte schätzt. Heute herrscht oftmals eine «Billig-Billig-Kultur bei den Konsumenten», beschwert er sich. Davon will er jedoch nichts wissen. Sein Produktsortiment von 4’000 Produkten erfüllt seinen hohen, persönlichen Anspruch. Die grösste Spezialität des Ladens ist die Obst- und Gemüsetheke. Das Gemüse wird meist direkt von Frau Tschanz ausgewählt und den Kunden liebevoll in eine braune Papptüte gepackt. Dabei tastet, drückt und prüft sich Frau Tschanz durch das Gemüse, um auch wirklich nur das Beste rauszusuchen. Hin und wieder gibt sie dazu Zubereitungstipps, gerade für die Studenten ein lebensrettender Extraservice. Das Studentenleben ist auch im Tschanz präsent: «Wir merken immer, wenn Lernphase ist, da wird reichlich Red Bull, Traubenzucker und Cola gekauft», erklärt er uns. Und am Anfang des Semesters kommen immer Anfragen nach Nägeln und Hämmer. «Nägel führen wir leider nicht, einen Hammer könnte ich ausleihen», lacht er.
Ein weiteres Highlight ist die alljährliche Weinprobenwoche. Herr Tschanz preist im hinteren Teil des Ladens seine Lieblingsweine an, erklärt den Kunden mit viel Enthusiasmus die einzelnen Weine und bietet reichlich Proben an – ganz unabhängig von der Uhrzeit. Um den Verkauf geht es ihm dabei nicht wirklich. «Ich komme mit den Leuten dabei ins Gespräch, das ist viel wichtiger.»
Erfolgsgeschichte mit Startschwierigkeiten
Seine Liebe zu guten Produkten entwickelte er in seiner Ausbildung, erzählt Herr Tschanz uns. «Ich lernte in einem Delikatessenladen – nur Herrenbedienung, alle komplett in weisser Schürze, Hemd und Krawatte. Das war eine prägende Erfahrung». Nach seiner Ausbildung und der Arbeit im Aussendienst entschied sich Dieter Tschanz für die Selbstständigkeit. Er war damals 23 Jahre alt, als er mit der etwas jüngeren Marlies Merk den Laden im Quartier Rotmonten übernahm. Kurze Zeit später hat nicht nur der Laden seinen Namen angenommen. Ursprünglich bekam Marlies Arbeitgeber das Angebot für den Standort offeriert. Der Drogist hatte jedoch kein Interesse. «Schaut ihr euch das lieber mal an», schlug er den beiden vor. Gesagt, getan und – nach reiflicher Überlegung, Standortanalysen und Verhandlungen – gekauft.
«Der Anfang war schwer», erklärt uns Dieter Tschanz. Der Laden war komplett heruntergewirtschaftet. Die Maden in der zwölf Jahre alten Schokolade waren noch harmlos, erzählte er. Der ganze, verwesende Schinken unter der Fleischtheke war schlimmer. Die Reinigungsaktion dauerte fast ein ganzes Jahr, in dem die Räume und Böden mit Drahtbürsten geschrubbt, der Keller ausgeräumt und die Regale mit Heisswasser ausgebrüht wurden. Auch die Kundschaft liess auf sich warten – der Ruf des Vorgängers war noch zu präsent. Aber Herr Tschanz war nicht unterzukriegen: «Irgendwann bin ich dann zu den Leuten gegangen und habe mich vorgestellt. Ihnen erzählt, dass jetzt jemand Neues den Laden führt.» Das zeigte Wirkung. Immer mehr Kunden kamen. Aber erst fünf Jahre später folgte mit dem Umbau der wirkliche Aufschwung des Tschanz. Und damit begann die Erfolgsgeschichte.
Work-Life Balance?
Dennoch forderte der Traum vom eigenen Geschäft einige Opfer. Von 7.30 bis 18.30 Uhr hat der Tschanz fast täglich geöffnet. Für Herrn Tschanz startet der Tag jedoch bereits um 5.30 Uhr. Zu Hause war er nie vor neun, erzählt er. Seit vier Jahren ist der Mittwoch Ruhetag, davor war jeweils nur der Sonntag frei. Natürlich leidet da die Freizeit. «Wir hatten selten Zeit. Einfach mal in das Theater gehen war nicht drin. Es war oft stressig», erzählt uns das Ehepaar.
Das ändert sich jetzt. Im Juni geht das Paar in Pension. Herr Tschanz Augen leuchten, als er von dem baldigen Abschied spricht. Konkrete Pläne für danach gibt es nicht. Er freut sich nun, einfach mal «sein» zu können. Der Tschanz bleibt Rotmonten aber erhalten. Er wird ab Juni übernommen. Auch die Familie Tschanz bleibt dem Quartier treu. «Viele dachten, wir würden weggehen. Aber natürlich bleiben wir, wir sind in der Gemeinde verwurzelt.»
Nach 42 Jahren erfolgreichen Unternehmertums zieht sich das Ehepaar Tschanz zurück. Eine letzte Erkenntnis teilen sie mit uns: «Man kann nicht verallgemeinern», erklärt Herr Tschanz. «Die Standortanalyse war die reinste Geldverschwendung. Es kommt immer drauf an, wie man es macht.» Mit dieser Absage an das St. Galler Management-Modell schliessen wir ab. Ach ja, seid unbesorgt: Der Frau wurde aus der Badewanne geholfen!