Grenzenlose Schönheit

«Hals und Beinbruch» lautet der Gruss unter Skifahrern. Newschool-Skier wagen nicht nur verrückte Sprünge, sie wagen es auch, sich gegen den Kommerz und die FIS aufzulehnen. Das ist ehrlich.

Wallride-to-shifty Flatspin 540 Japan nennt sich der Trick, den Nick Martini auf dem Foto links gerade vollführt. Das Fachsuaheli auf Deutsch übersetzt: Martini ist aus der Betrachterperspektive von links über die Schanze an die besprayte Wand gesprungen (Wallride), hat sich dort mit den Füssen abgestossen und direkt eine anderthalbfache Drehung (540) mit horizontaler Achse, quasi in der Luft (Flatspin), angehängt. Dabei grabt er mit der rechten Hand den linken Ski innen vor der Bindung (Japan) und lässt durch Überdrehen des Oberkörpers den Eindruck entstehen, in der Drehung kurz innezuhalten (shifty). Das Wörtchen to wird zwischen zwei aneinandergereihte Tricks gesetzt, hier zwischen den Jib (Befahren von Hindernissen) und den Spin (Rotation).

Newschool-Skiing ist eine Variante des Skifahrens, bei der unterschiedlichste Tricks über Schanzen (Kicker), in der Halfpipe oder beim Jibben (z.B. Rails) erfunden und vollführt werden. Dabei können Vor- und Rückwärtssalti (Flips) mit Rotationen um die mehr oder weniger schräge Rotationsachse (Flatspin bis Cork) und einer unbegrenzten Zahl an Grabs kombiniert werden. Der Fantasie spürbare Grenzen setzt allein die Endlichkeit der Flugdauer. Von den physischen Limits könnte Skiprofi Mike Wilson ein Liedchen singen. Bei einem Sprung über 40 Meter zog er sich neben einem Lungenkollaps mehr als ein halbes Dutzend Knochenbrüche zu, darunter Rücken, Rippen und Fussknöchel (Youtube). Das konnte ihn allerdings nicht daran hindern, drei Monate später wieder seiner Passion nachzugehen.

Entstanden ist der Sport in den 90er-Jahren aus den Disziplinen Freestyle und Buckelpiste. Der internationale Ski-Verband FIS hatte beide Bereiche derart detailliert und restriktiv reglementiert, dass etliche kreative Fahrer ausstiegen und zusammen etwas Neues wagten. So entstand eine Sportart, die freie Improvisation und Vergnügen an der Sache in den Mittelpunkt stellt und grundsätzlich keine Regeln kennt. Angestrebt wird Schönheit, kurzum Style, mittels einer möglichst ästhetischen und kreativen Fahrweise.

Geld und Ruhm rufen nach Objektivierung

Aufgrund der rasant steigenden Beliebtheit des Sports wurden Newschool-Innovationen, wie etwa Twintip-Ski, populär. Diese sind im Vergleich zu herkömmlichen Skiern an der Spitze und am Ende nach oben gebogen, was das Rückwärtsfahren und -landen erleichtert. Mittlerweile haben Skifirmen das Vermarktungspotenzial entdeckt und versuchen, durch Sponsoring von Top-Athleten mehr zu verkaufen. Um sich besser in der Szene profilieren zu können, riefen Sponsoren unzählige Wettkämpfe (Contests) ins Leben, welche ein substanzielles Problem aufwerfen: Wie Ranglisten erstellen, wenn keine messbaren Leistungen erbracht werden? Zwar könnten zur Leistungsbeurteilung analog zu anderen Sportarten Kriterien entwickelt werden, doch lehnt die Community dies klar ab, weil es ihre Freiheit einschränkt. Einig ist man sich einzig, dass die beiden Faktoren technische Schwierigkeit und Style bewertet werden sollen. Dank einer grossen Masse an ebenbürtigen Topathleten und dem Fehlen von Rankings entscheidet so der individuelle Style in aller Regel über Sieg oder Niederlage.

Unter diesen Bedingungen geht die Forderung nach einem objektiven Vergleich Hand in Hand mit der Annahme, dass ein Konsens über das Schöne vorhanden ist. Dieser überhöhte Anspruch ist gnadenlos zum Scheitern verurteilt, da noch kein Contest stattgefunden hat, an dem es nicht ebenso viele Meinungen wie Judges und Zuschauer gab. Mit der fehlenden Objektivität scheidet auch die Wettbewerbstauglichkeit des Sports aus, aber die Szene bleibt sich durch das Fehlen von Regeln doch noch treu. «Der Ästhet ist der rechte Realpolitiker im Reich der Schönheit», lautet ein Diktum von Karl Kraus. Zum Glück bleiben die Newschool-Idealisten ihren Idealen treu und finden Style wichtiger als Geld.


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