Heute ist Zahltag

Ein Drama in vier Akten. prisma war für euch dabei, als der Assessmentstudent, er sei hier Bernt genannt, seine Noten in der Voranzeige erfährt.

02_Computer_1Eigentlich ist es viel zu früh am Morgen. Pünktlich um halb acht Uhr läute ich an Bernts Haustür (Name geändert). Er bittet mich höflich herein mit der Bemerkung, er habe bereits Kaffee aufgesetzt. Wir wissen beide nicht, was uns an diesem Morgen genau erwartet. Bernt geht in seinem Studio nahe der Universität auf und ab. Normalerweise würde er um diese Uhrzeit noch mit sich ringen, ob und wann er überhaupt aufstehen soll. Doch nicht heute. Das Aufstehen war im Gegensatz zum Einschlafen kein Problem. Geschuldet der Nervosität; heute ist Zahltag – heute ist Notenvoranzeige. Das Notebook wird wieder hochgefahren. Begrüsst von einem aufleuchtenden Apfel, sowie einem einladenden Ton, wählt sich Bernt erneut in das Netzwerk der Universität ein. Noch ist es nicht zusammengebrochen. Kein Wunder, eine knappe halbe Stunde vor dem Aufschaltzeitpunkt. Draussen schneit es.

Die Notenvoranzeige bildet zweimal im Jahr den emotionalen Höhepunkt der Studenten. Im Assessment ist die Anspannung besonders gross. Halbjährlich, pünktlich um 8.00 Uhr sind die Systeme der Universität mit den vielen Anfragen überfordert: Jeder will es wissen, und zwar sofort. Das Wissen um die Resultate ist das Einzige, was einem diese unangenehme Anspannung der Ungewissheit nehmen kann. Auf eine fundierte eigene Einschätzung der zu erwartenden Noten kann man sich im ersten Semester mangels Erfahrung leider nicht verlassen. Ein Versteckspiel im Dunkeln. Der Zeitpunkt rückt näher. Bernt beginnt fast gebetsmühlenartig zu rekapitulieren wie seine Prüfungen verlaufen sind. Wie und wieviel er gelernt hat, was er dabei hätte besser machen können, sowohl in der Lern-, wie in der Prüfungsphase. Wäre der Vorbereitungskurs wohl doch besser gewesen? Hat ihn der kurze Skiausflug trotzdem zu viel Lernzeit gekostet? Waren die Mittagspausen mit seinem geliebten Schläfchen doch zu lange ausgefallen? Er trinkt ein Glas Wasser in einem Zug, den Kaffee hinterher. Nicht wirklich etwas was gegen die merkliche Unruhe hilft. Draussen herrscht mittlerweile ein kleiner Schneesturm.

Heisse Phase

Lernpsychologen sprechen in diesem Zusammenhang von Attribution; ein Resultat wird mit gewissen Ursachen in Verbindung gebracht. Attribuiert man einen Erfolg mit beinflussbaren Ursachen wie grossen Engagements oder viel Verzicht, kann dies sehr motivierend und belohnend wirken. Eine konstruktive Attribution. Genauso, wie wenn ein Misserfolg auf mangelnden Einsatz zurückgeführt wird. Anders, wenn der Misserfolg mit unbeeinflussbaren Ursachen attribuiert wird, wie z.B. der eigenen Intelligenz. Eine destruktive Attribution. Man hüte sich davor.

Die heisse Phase. Wenige Minuten noch und die Früchte der Arbeit des ersten Semesters werden sich zeigen. Bernt beginnt sich wieder zu hinterfragen. Nicht alles lief glatt… Ist es überhaupt das richtige Studium? Wäre die Lernphase in einem anderen Programm oder gar einer anderen Universität erträglicher? Lag es an seiner Motivation oder fehlt ihm gar doch das wirklich eigene Interesse am Stoff? Ist er seinen Präferenzen oder doch nur dem guten Ruf hier her an die HSG gefolgt? Wäre ein Scheitern ein Hinweis, das Studium ohne weiteren Versuch zu wechseln? Was sind seine Optionen für ein allfälliges Zwischensemester betreffend Studentenjob oder Praktika? Die Anspannung steht Bernt im Gesicht, sein Blick starr auf den Bildschirm, sein Zeigefinger klickt wiederholt auf das Touchpad, der Cursor auf «Seite neu Laden». Der Schneesturm draussen nimmt einem nun die ganze Aussicht über die Stadt St. Gallen.

Seit diesem Jahr haben wir einen Anhaltspunkt zur Durchfallquote im Assessmentjahr: Roman Capaul nannte die Zahl von 40 Prozent der Studenten, welche das Assessment nicht schaffen (inklusive Studienabbrechern) gegenüber dem St. Galler Tagblatt. Eine Zahl, die Betroffenen durchaus zu denken gibt. «Man kann das erste Jahr eines Studiums durchaus noch als Teil des Prozesses der Studienwahl betrachten», sagt Mario Foppa, Studienberater der ETH Zürich. Bernts Mobiltelefon läutet Sturm. Im gleichen Moment lädt die so herbeigesehnte, erlösende PDF-Seite der Notenvoranzeige. Gruppenchats, Kommilitoninnen und Kommilitonen oder Freunde aus höheren Semestern. Fragend, klagend oder auch ganz ohne Kommentar zu den Resultaten, überhäufen sich die Meldungen auf dem Display von Bernts Mobiltelefon. Doch er, plötzlich still und ruhig geworden, schaut entspannt, fast erlöst, auf seinen eigenen Notenauszug. Draussen dringt die Sonne ansatzweise durch das sich legende Schneegestöber.

So sei es

03_Schroedinger_1Das Gedachte, das Vermutete, das Erhoffte oder Befürchtete weicht nun der Realität. Schrödingers Katze springt aus der Box. Ein solcher Moment wird oft als schicksalhaft erlebt. Eine Weichenstellung in letzter Sekunde, die den weiteren Verlauf der rasenden Studienlaufbahn bestimmt. Erfüllen die Resultate die Erwartungen, steigt eine euphorische Stimmung in einem auf. Ist dies nicht der Fall, kann sich ein unangenehmes Gefühl der Hilflosigkeit breitmachen. Da hilft es, sich die letzten Worte von Prof. Bodo Hilgers ins Gedächtnis zu rufen, die er uns im Herbstsemester in die Lernphase mitgegeben hat: «Noten sind nicht alles im Leben».


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