Viele Buchstaben, doch nichts mit Sinn. Diese Prämisse verfolgt der Autor so manch einer ReKo-Arbeit. Doch was passiert, wenn man sie wirklich umsetzt? Ein Selbstversuch.
Die Kurven machen sich gut, jede Rundung ist genau richtig. Das S sieht aus, als sei es der letzten Modezeitschrift entsprungen, vielleicht auch einem Filmtitel. Es hält kurz inne und ruht sich aus. Die Wanderung ist anstrengend, der Weg noch weit. Doch allzu lange ist nicht mehr Zeit, dann muss es sich wieder aufraffen und auf seinen bleiernen Füsschen weiterwandern. Neben S sitzt i, vom Typ her eher in der Bedienungsanleitung eines Billigmixers zu finden. Auch es ist angestrengt, seine lange Form macht es zum Wandern nicht gerade geeignet. Bei jedem tief hängenden Ast muss es sich bücken, und wegen seiner schmalen Schultern rutscht ihm immer der Rucksack runter.
Als sich das ungleiche Paar aus grossem S und kleinem i wieder auf den Weg macht, sieht das i das S neidisch an. Es beneidet es um seine Kurven und – viel wichtiger – um seine Serifen. «Ach, hätte ich nur Serifen!» sagt i, «dann müsste ich nicht immer Jacken mit Schulterpolstern tragen, um meine schmalen Schultern zu verstecken». Doch auch S ist mit seiner Figur unzufrieden. «Die kannst du gerne haben! Mit denen bleibt man nur überall hängen und wirkt so schrecklich altmodisch. Ausserdem gaffen mir alle immer auf meine Kurven und haben keine Ahnung, was die für Rückenprobleme mit sich bringen. Am Ende finden sie trotzdem nur meine kleinen Zwillingsschwestern im Doppelpack wirklich scharf.»
So wandern sie weiter – S trippelnd, i schwankend – und schweigen sich an. Die Stimmung ist gedrückt, die Wanderung ein Versuch, die Freundschaft zu retten. Letzthin mussten sich die beiden eingestehen, dass ihnen etwas fehlt, doch was es ist, konnten sie nicht benennen. So begaben sie sich auf eine Wanderung durch die Wiesen der Erkenntnis und die Wälder der Erhabenheit. Die Wiesen der Erkenntnis haben sie schon morgens hinter sich gelassen, doch die Erkenntnis blieb aus. Vielleicht sei es einfach die falsche Jahreszeit – vielleicht gebe es die Erkenntnis nur, wenn die Blumen blühen – was im Herbst etwas schwierig sei, meint S zu i. Doch insgeheim dachte es von Anfang an, dass so etwas nicht funktionieren könne. Gerade verlassen sie den Wald der Erhabenheit. Goldgelb hatten sich die Sonnenstrahlen durch die Blätter gekämpft und die Landschaft in ein zauberhaftes Licht getaucht. Doch so schön die Szenerie auch war, auch die Erhabenheit brachte S und i dem Sinn nicht näher. Ihr Weg führt sie weiter in Richtung des Gipfels der göttlichen Einsicht. Man sagt, wer ihn erklimmt, erkennt den Sinn des Lebens. Den suchen sie zwar nicht, hoffen aber trotzdem auf Erleuchtung. Auf der Rückseite des Gipfels der göttlichen Einsicht befinden sich die Klippen der Verzweiflung. Auch die erschreckend hohe Selbstmordrate unter den Besuchern scheint sich nicht negativ auf den Zustrom an Touristen auszuwirken.
So schieben sie sich Meter um Meter dem Gipfel entgegen. Mit jedem Schritt wird die Konsternation grösser. Plötzlich zerreisst ein Schrei die Stille: «Nein, tu es nicht!» S und i schauen sich an, werfen die Rucksäcke ab und fangen an zu rennen. Mit jeder Biegung kommen sie dem Schluchzen näher, dem verzweifelten Flehen, in das sich der Schrei gewandelt hat. Ausser Atem erreichen sie die Klippen der Verzweiflung. Vor ihnen stehen zwei kleine n, vielleicht gerade mal Schriftgrösse 9. Das eine der beiden steht hinter den Absperrungen und will sich in den Tod stürzen. Das n an der Klippe, den Blick starr nach vorne gerichtet, sagt trocken: «Wir werden nie finden, was uns zum Sinn fehlt.» S und i schauen sich an, nicken sich zu und treten an die Klippe. Sie wissen, was zu tun ist.
Illustration: Keto Schumacher