Ist das schlechte Gewissen nur schlecht?

Im folgenden Beitrag soll aufgezeigt werden, wie Glaube dem schlechten Gewissen entgegenwirken könnte.

Das – vorwiegend schlechte – Gewissen wird vielfach mit religiösem Dogmatismus in Verbindung gesetzt. Die schwindende Bedeutung des schlechten Gewissens in der Gesellschaft geht mit dem Autoritätsverlust der Kirche einher. Doch das Gewissen ist primär im Menschen und nicht in der Kirche verortet. Es prägt das menschliche Handeln. Mit dem Gewissen lassen sich sowohl Feldzüge als auch der Pazifismus legitimieren.

Was ist das Gewissen?

Das menschliche Tun hängt unweigerlich mit dem Gewissen zusammen. Das Gewissen ist so facettenreich wie die Menschen, zu denen es spricht. Pilatus wurde von seinem Gewissen gewarnt und sich seiner Schuldhaftigkeit bewusst, als er Jesus auf Drängen des Volkes zur Kreuzigung freigab. Martin Luther berief sich auf sein Gewissen, als er sich vor dem Wormser Reichstag weigerte, seine Ansichten zu widerrufen. Im Mittelalter mordeten die Kreuzfahrer in gutem Gewissen; die römische Kirche begründete diese Taten im Namen des Christentums. Nicht anders legitimierten die muslimischen Terrororganisationen ihre Anschläge auf das World Trade Center in New York. Das Gewissen kann sowohl Schranke als auch Persilschein für die eigenen Taten sein.

Die Mitwisserschaft

Das Gewissen ist ein äusserst filigranes Konstrukt. Aber was ist es eigentlich? Eine neutrale Übersetzung des aus dem Lateinischen stammenden Wortes wäre «Mitwissen». Darunter kann man sich eine besondere Instanz im menschlichen Bewusstsein vorstellen, die über Gut und Schlecht urteilt. Aus soziologischer Sicht ist es ein Konstrukt, welches kulturell und biografisch gewachsene Überzeugungen widerspiegelt. Das Gewissen wird dabei vor allem im Zusammenhang mit Entscheidungen betrachtet. Es bewegt eine Person dazu, eine Handlung zu tun oder zu unterlassen. Die heutige Bedeutung von «Gewissen» geht auf die christliche Theologie zurück.

Das Gewissen und die christliche Theologie

Aus heutiger Sicht haftet der Verbindung von Gewissen und Christentum eine negative Konnotation an. Nicht selten wurde in der Kirchengeschichte das Gewissen durch Schamgefühle und Gewissensbisse instrumentalisiert, um die Gläubigen zu disziplinieren und unterwürfig zu halten. Die biblische Legitimation dieser Taten ist schwammig, denn die Bibel selbst kennt keine Lehre vom Gewissen. So gibt es im Alten Testament auch keinen besonderen Begriff für das Wort Gewissen. Eine Vorstellung davon existiert aber bereits. Die Psalmen erzählen von einer Stimme Gottes, die im Menschen spricht. Erst Paulus führt im Neuen Testament den Begriff des Gewissens ein. Dabei wandelt sich in der christlichen Theologie die von aussen kommende Stimme Gottes zu einer inneren Stimme. Der Römerbrief zeigt, dass nicht nur Juden Gottes Wege erkennen, sondern auch die Heiden, denn «… ihr Gewissen legt davon Zeugnis ab» (Röm. 2, 15).
Der Kirchenvater Thomas von Aquin definiert das Gewissen als «Vollzug eines Urteils über den moralischen Wert einer Handlung». Der Philosoph und Theologe sieht das Gewissen als letzte Instanz, die für den Menschen massgebend sein soll; auch wenn er sich dabei der Obrigkeit (Kirche) widersetzt. Das ist die so genannte Freiheit des Gewissens. Der Theologe erklärt das schlechte Gewissen als Missverhältnis zwischen Handlungswahl und Gewissensurteil.

Luther und die Freiheit des Gewissens

Auf die Freiheit des Gewissens beruft sich auch Martin Luther 1521 vor dem Wormser Reichstag, als er zu seinen Schriften Stellung nehmen musste. Er akzentuiert dabei diesen Begriff neu. Bei ihm ist das Gewissen nun eine handlungsbeurteilende Instanz und nicht mehr eine von Gott in den Menschen gelegte handlungsorientierende Instanz. Das Gewissen ist daher nicht mehr göttlichen Ursprungs, sondern nichts anderes als ein innerpsychisches Mitwissen und eine von äusseren (biblischen) Werten vorgegebene Beurteilungsinstanz. Er betont dabei, dass einzig und allein der Glaube befähigt, das Richtige zu tun. Das Gewissen führt zum Sündenbewusstsein. Denn gemäss Luther ist der Mensch Gefangener der Sünde. Da stellt sich die Frage, ob der Mensch überhaupt einen freien Willen besitzt. Oder ist er einfach eine Marionette Gottes? Nach Luthers Auffassung kann der Mensch in der Auseinandersetzung mit Gottes Wort das Gute erkennen und danach handeln.

Gott hat den Menschen mit dem freien Willen ausgerüstet. Wir können tun und lassen, was wir wollen. Doch das Gewissen fragt uns immer wieder: Darf ich dieses oder jenes tun? Hier stellt sich die Frage: Ist Gott einfach ein Spielverderber? Soll man sich denn auf dieser Welt nicht einfach ausleben können? Sollen wir denn ständig mit einem schlechten Gewissen leben?

Das Evangelium als Gewissen des Gewissens

Das menschliche Gewissen ist nichts Statisches. Es wird sogar gesagt, das Gewissen gäbe es nicht, da jeder Mensch sein individuelles Gewissen hat. Als Mensch kann ich mich entscheiden, welche Werte und Normen mein Gewissen prägen sollen. Mein Gewissen braucht eine Orientierungshilfe. Der Schweizer Theologe und Romanist Alexandre Vinet drückt dies sehr treffend aus, wenn er schreibt: «Das Gewissen ist das gewissenloseste Ding. Das Evangelium ist das Gewissen des Gewissens.»

Die Bibel zeigt uns auf, wie Gott die Welt und uns Menschen sieht. Das Evangelium füllt den Begriff des Gewissens. Gott offenbart uns in der Heiligen Schrift eine göttliche Ordnung der Welt, die von einer durchdringenden Liebe für die Menschen gekennzeichnet ist. Das hat der Kreuzestod von Jesus Christus bewiesen. Weiter lehrt uns das Evangelium Prinzipien für das menschliche Zusammenleben.

Gott erforscht das Gewissen

Gott möchte unser Gewissen erforschen. Gott will die Menschen nicht peinigen und unser Leben mit einem ständig schlechten Gewissen versehen. Das Gewissen hilft uns, unsere Schuldhaftigkeit gegenüber Gott zu erkennen. Die Gläubigen können sich auf Gottes Verheissungen berufen, denn er sagt selber, dass die innere Freudigkeit Ausdruck eines von Gott bestätigten Gewissens ist. Denn wenn die Schulderkenntnis zum Schuldbekenntnis führt, dann findet die Versöhnung mit Gott statt. Und dann ist die göttliche Ordnung wiederhergestellt.

Das Gewissen soll eine Alarmglocke sein. Es funktioniert aber nur, wenn es auf Werten der Achtung, des Respekts und der Würde gegenüber Mitmenschen und sich selber basiert. Das Gewissen soll uns davon abhalten, «kopflos» eine Aktion durchzuführen. Das Gewissen hat also keine strafende Funktion, sondern eine Schutzfunktion.

Quelle der eigenen Identität

Das Gewissen ist auch identitätsstiftend. Das, was ein Mensch tut, verleiht ihm die Persönlichkeit. Die Auseinandersetzung mit den Mitmenschen, der Umwelt und Gott fordert Entscheidung. Das Gewissen formt unser Handeln; es wirkt daher konstitutiv für das Leben. Der deutsche Theologe Stephan Schaede sagt dazu: «Mein Gewissen ist der Spiegel, der mir zeigt, wer ich bin und wie ich bin.» Ein festes Gewissen führt zur Unabhängigkeit; ich muss nicht jemand anders sein. Es kann auch den Mut verleihen, sich Autoritäten oder dem «Mainstream» zu widersetzen. So wie das Luther vor dem Wormser Reichstag gemacht hat.

Die Folgen des Verlustes der Individualität hat das in den 70er-Jahren durchgeführte Stanford Gefängnisexperiment von Philip Zimbardo gezeigt. Das Experiment liess erkennen, dass unter bestimmten Umständen der Mensch zum Täter wird. Die fiktiven Wärter hatten die Freiheit, selbstständig die Regeln zu bestimmen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. In Uniformen gekleidet, wurden aus sonst friedliebenden jungen Studenten gesichtslose Folterknechte. Das Experiment zeigt, dass in Situationen, wo der Mensch unter Druck seine Individualität verliert, sich das Gewissen ausschalten lässt.

Eine notwendige Alarmglocke?

In der biblischen Vorstellung hat das Gewissen die Funktion einer Alarmglocke. Nicht nur das Gefangenenexperiment, sondern auch historische und gegenwärtige Ereignisse zeugen davon, dass die Alarmglocke immer wieder ausgeschaltet werden kann und das Gewissen seiner Funktion beraubt wird. Es stellt sich daher die Frage, wie das Umfeld – Familie, Schule/Universität, Unternehmen oder Staat – ausgestaltet werden muss, damit das Gewissen nicht ausgehöhlt wird.

Konsequenz

Das Gewissen ist ein fragiles Konstrukt. Wie es gefüllt wird, hängt zum einen vom sozialen und kulturellen Umfeld ab und zum anderen vom Weltbild, an dem man sich orientiert. Das Evangelium kann als Orientierungshilfe dienen. Es ist lebensbejahend und widerspiegelt Gottes Sicht vom Menschen. Wenn ich mich an christlichen Massstäben orientiere, dann schlägt das Gewissen Alarm, wenn ich mich von der göttlichen Ordnung entferne. Was ich daraus mache, ist mir selber überlassen. Das schlechte Gewissen soll dabei nicht dogmatisch einschüchternd verstanden werden, sondern als Instanz, die uns hilft, verantwortungsvoll gegenüber Mitmenschen, der Natur und Gott zu leben.


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