Kontextstudium: ein struktureller Nachteil?

Das Kontextstudium ist mittlerweile fest im Curriculum der HSG verankert und geniesst breite Wertschätzung. Im prisma-Interview bezieht der Kontextstudium-Kritiker Prof. Manfred Gärtner Stellung und plädiert für eine Stärkung der eigentlichen Kernfächer.

Seit bald 10 Jahren bietet die HSG nun die Bologna-Studiengänge Bachelor und Master an, deren Einführung ausserdem zu einer umfassenden Neukonzeption der Lehre genutzt wurde. Prominentestes Kind dieser Neukonzeption ist das Kontextstudium, das seitdem 25% des Lehrplans jedes Studenten ausmacht und für dessen Einführung sich die HSG gerne auch im In- und Ausland auf die Schulter klopfen lässt. Namhafte Universitäten im deutschsprachigen Raum kopieren bereits das St. Galler Modell.

Doch möglicherweise trüben die St. Galler Hochglanzprospekte den Blick auf wachsende Probleme innerhalb der eigentlichen Kernfächer, auf dessen Kosten sich das Kontextstudium im Curriculum etabliert hat. Dieser Meinung ist auch VWL-Prof Manfred Gärtner, der im prisma-Interview seine Kritik an der St. Galler Konzeption des Kontextstudiums formuliert, die dadurch entstandenen Probleme für die volkswirtschaftliche Lehre erläutert und gleichzeitig Wege aufzeigt, wie diese Probleme pragmatisch gelöst werden könnten.

Das St. Galler Tagblatt schrieb am 9. Juni 2009: «Das Anfang des Jahrtausends eingeführte Kontextstudium sei ein «brand», um den andere Wirtschaftsuniversitäten St. Gallen beneiden.» Wie passt das mit Ihrer Kritik zusammen?
Das ist eine Behauptung. Ich kenne keine Zahlen, die dies bestätigen oder widerlegen. Es ist generell schade, dass wir uns nicht an eine wissenschaftliche Evaluation der ‚Errungenschaften‘ der Studienreform heranwagen, zu denen ja auch das Selbststudium gehört. Ob uns jemand beneidet ist aber sowieso nicht entscheidend. Es ist der ‚Markt‘, breit verstanden, unter Einbezug der Gesellschaft, der beurteilt, ob das Kontextstudium für unsere Absolventen netto einen Zusatznutzen hat oder ob die in anderen Bereichen entstehenden Defizite überwiegen.

... so heisst es auch in demselben Artikel weiter: «Das Kontextstudium war für viele eine lästige Pflicht – vor allem für Betriebswirtschaftler, die hatten bloss ein müdes Lächeln dafür übrig. Einige Studenten forderten bereits sogar die Abschaffung des Obligatoriums. Allerdings ohne Erfolg.»
Ich war zur Zeit der Reform bezüglich des Kontextstudiums skeptisch. Und was im erwähnten Artikel über Betriebswirtschaftler steht, gilt für Volkswirtschaftler genauso. Inzwischen habe ich meinen Frieden mit dem Kontextstudium gemacht, auch weil die Programmleitung seit einigen Jahren ein sehr offenes Ohr für unsere Anliegen hat. Mittlerweile gibt es ein höchst reichhaltiges und interessantes Angebot, das ein VWL-Studium gut ergänzen kann, wodurch sich das Problem zumindest etwas entschärft hat. Grundsätzlich besteht aber ein Dilemma im Sinne einer Konkurrenz um die Zeit der Studierenden. Denn trotz Inanspruchnahme unserer Studenten durch das Kontextstudium haben wir weiterhin die Vorgabe, im Fach selbst internationales Niveau zu erreichen.

Sie sehen also das Niveau der Lehre durch das Kontextstudium bedroht?
Bezüglich der Themen erreichen wir sehr wohl internationale Standards, und unsere Studenten reproduzieren dieses Wissen auch an Prüfungen. Im Vergleich mit anderen Universitäten bieten wir allerdings viel zu wenig Gelegenheit, Erlerntes zu üben, so dass es an Anwendungskompetenz mangelt.

Also fehlt durch das Kontextstudium vor allem die Zeit für Übungsgruppen und Tutorien?
Da das Kontextstudium bleiben wird, müssen alternative Lösungsansätze gefunden werden, um die an der HSG knappere Zeit im Fachstudium effizient zu nutzen. Ich denke da zum einen tatsächlich an die Übungsgruppen. In den Pflichtfächern der volkswirtschaftlichen Abteilung haben wir rechnerisch 50 Teilnehmer, wodurch eine persönliche Betreuung und Interaktion verunmöglicht wird.

Sie haben sich also mit dem Kontextstudium abgefunden und die eigentlichen Reformansätze sollen innerhalb des verbliebenen Fachstudiums erfolgen?
So kann man das zusammenfassen. Sicher kann man darüber diskutieren, ob das Kontextstudium tatsächlich dieses Volumen beanspruchen muss, aber es ist kontraproduktiv, in dieser Frage neue Streitigkeiten vom Zaun zu brechen.

Gab es diesbezüglich hinter den Kulissen viele Streitereien?
Die Einführung des Kontextstudiums, und übrigens auch des Selbststudiums, war nicht einstimmig. Solche Projekte sind Resultate universitätspolitischer Prozesse. Mit meiner skeptischen Haltung war ich bei weitem nicht allein. Aber, wie bereits gesagt: Das Kontextstudium kann ein wirtschaftliches Studium bereichern. Auch ist in der kulturwissenschaftlichen Abteilung inzwischen viel investiert und Kreatives produziert worden, was das Dilemma beträchtlich entschärft, und weshalb den Verantwortlichen die Chance zugestanden werden sollte, das Kontextstudium weiter zu entwickeln. Mein Fokus liegt auf Reformimpulsen im Bereich des Fachstudiums, wo wir durch administrative Stolpersteine behindert werden. Wir könnten im Fachstudium auch ohne Beschneidung des Kontextstudiums mehr erreichen, liessen sich diese aus dem Weg räumen.

Gegen diese Bemühungen, Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, gibt es interne Widerstände, denn Ihre Vorschläge wie kleinere Übungsgruppen oder verbesserte Betreuung erfordern in erster Linie grössere finanzielle Ressourcen.
‚Widerstände‘ ist zu hart ausgedrückt. Aber es fehlen offene Ohren. Bezüglich der Kosten muss man unterscheiden. Die Beseitigung administrativer Einschränkungen würde kaum etwas kosten. Die angesprochenen Verbesserungen im Bereich der Übungen hätten aber spürbare Kostenfolgen. Doch kann ich mir durchaus Budgetbereiche vorstellen, in denen gespart werden könnte…

… möglicherweise beim Kontextstudium?
Ja, wobei ich einräume, dies nicht aus einer objektiven, gut informierten Warte beurteilen zu können. Aber auch das Wachstum in einigen Bereichen unserer Verwaltung verdient einen kritischen Blick. Um die Zusatzkosten überschaubar zu halten, könnten vermehrt Doktoranden herangezogen werden, die nicht teuer, aber qualifiziert genug sind, um selbst bei einer massiven Erhöhung der Zahl der Übungsgruppen hohe Qualität zu gewährleisten.

Darüberhinaus würde die Abschaffung unnötiger Reglementierungen erhebliche Qualitätsreserven freisetzen, ohne das Budget zu strapazieren. Beispiel: Ich muss 50% meiner Pflichtveranstaltungen im Selbststudium anbieten. Das ist, als würde man einem Tennisspieler ein Korsett anlegen, das nur bestimmte Bewegungen zulässt. Dozierende wissen selbst besser, ob und in welchem Ausmass sie das Selbststudium für ihr Thema und Konzept nutzen können. Verweigert man ihnen diese Freiheit, kann man das nur als Misstrauen interpretieren. Das Ergebnis muss dann suboptimal sein. Hinderlich sind auch die Vorgaben bezüglich Prüfungsform und -zeitpunkt. In Pflichtfächern haben die Prüfungen im zentralen Prüfungsblock stattzufinden. Die Prüfung zur Makroökonomik III findet 2 Monate nach der letzten Vorlesung statt! Da ist es nur rational, wenn sich Studierende im Semester auf die dezentralen Leistungen – eben das Kontextstudium – konzentrieren und sich mit den Kernthemen ihres Studiums erst nach Semesterende befassen, wenn ihnen Dozierende eigentlich nicht mehr zur Verfügung stehen. Dies stellt nicht nur die Prioritäten auf den Kopf. Auch ein effizienter Einsatz von Steuermitteln sieht anders aus. Weitere Stolpersteine entstehen dadurch, dass wir Prüfungsmerkblätter lange vor Semesterbeginn einreichen und Prüfungen selbst deutlich vor Semesterende anfertigen sollen. Dadurch wird ein flexibler Bezug zur aktuellen Praxis, jetzt etwa zur Griechenlandkrise, massgeblich erschwert.

Zurück zum Kontextstudium: Was halten Sie von dessen offiziellen Anspruch, Persönlichkeiten zu bilden?
Da mutet sich eine Universität zu viel zu. Durch das Angebot des einen oder anderen fachfremden Kurses wird keine Persönlichkeit gebildet. Natürlich spielt das Studium eine Rolle, doch werden Persönlichkeiten früher und breiter geprägt: Im Elternhaus, in der Schule, durch die Gesellschaft. Sicherlich können wir formulieren, wie wir uns ideale Absolventen vorstellen, doch bezweifle ich, dass wir sie in diesem Sinne formen können. Viel wichtiger ist, was wir vorleben.

Die HSG musste sich vor einem Jahr aufgrund ihrer vermeintlich neoliberalen Eindimensionalität heftige öffentliche Kritik gefallen lassen. Im Gegenzug verwies die Universitätsleitung damals immer wieder auf das Kontextstudium, um die Offenheit der St. Galler Lehre zu belegen. Ist das Kontextstudium eine Alibi-Übung um lästigen Kritikern auszuweichen?
Zunächst einmal: diese Schuldzuweisungen resultierten aus einer weitgehenden Unwissenheit darüber, was die HSG im Allgemeinen und unsere Ökonomen im Speziellen lehren.

Zu Ihrer Frage: nach aussen war es für die Universitätsleitung sicherlich ein willkommenes, einfaches Argument, auf das Kontextstudium hinzuweisen.Jedoch glaube ich nicht, dass das Kontextstudium in dieser Frage von substanzieller Bedeutung ist.

Also eine plumpe Antwort auf eine plumpe Kritik?
Kann man vielleicht so sagen. Jedenfalls wäre das Argument nicht ausreichend, um die Fortführung des Kontextstudiums zu rechtfertigen. Wollen wir Lehren aus der Krise ziehen, braucht es mehr als ein In-sich-Gehen der Universitäten. Die Gesellschaft insgesamt muss sich überlegen, ob wir richtige Prioritäten setzen.

Kann an dieser Stelle das Kontextstudium nicht anknüpfen, um breitere Blickwinkel zu ermöglichen und um diese Sinnfrage umfassender zu beantworten? Gerade in Bezug auf die Rolle der Wirtschaft: Verstehen wir diese weiterhin als Selbstzweck oder lässt sie sich nunmehr der Gesellschaft unterordnen? Liegt darin nicht gerade die zukünftige Aufgabe des Kontextstudiums, auf diese Fragen effizient neue Antworten anzuregen?
Ich glaube nicht, dass Menschen so funktionieren. Wir können Studenten nicht vorbeten, was der Sinn des Lebens ist, wie ihre Prioritäten sein sollten oder wie Unternehmen zu funktionieren haben. Wir können unsere Studenten bilden – und da spielt das von Ihnen Angesprochene schon rein – um auch Bewusstsein für Themen zu schaffen, welche in der Hetze des Fachstudiums aus dem Blick zu geraten drohen. Genau genommen sollte dies in einem guten Fachbereich auch Teil des Fachstudiums sein. Leider haben wir in der Vergangenheit diesbezüglich Fehler gemacht, wie etwa Professuren für Wirtschafts- und Dogmengeschichte auslaufen zu lassen zugunsten einer Stärkung im Bereich Methoden und Finance. Das Kontextstudium hilft hier tatsächlich, entstandene Lücken zu schliessen.

Die durch den neuen interkantonalen Finanzausgleich möglichen zusätzlichen Professuren an der HSG bieten die Möglichkeit, das Kompetenzspektrum der Volkswirtschaftlich Abteilung (VWA) wieder aufzufüllen und unsere Massenveranstaltungen auf mehrere Schultern zu verteilen. Leider zeichnet sich ab, dass davon kaum etwas in der VWA ankommen soll. Dies hielte ich für eine wenig durchdachte Reaktion auf die jüngste Kritik. Mit künftigen Krisen werden wir nicht besser umgehen, wenn wir noch weniger vom Fach verstehen, dafür aber mehr und mehr ringsum garnieren. Die Garnitur kann kein Fundament ersetzen.

Haben Sie die Befürchtung, dass die VWL-Qualifikation der HSG-Absolventen langfristig nicht mehr erstklassig bleibt?
Bezüglich des Rufs seiner VWL in der Wissenschaft war St. Gallen vor 20 Jahren ein Aschenputtel. Mittlerweile sind wir hinter Zürich auf dem zweiten oder dritten Platz in der Schweiz und haben ehrgeizige internationale Ziele. Andererseits sollen keine Studenten mit einem fachlich unverantwortlich dünnen Bachelor oder Master die HSG verlassen. Da haben wir im Fachstudium den strukturellen Nachteil namens Kontextstudium. Dies können wir teilweise abfedern, weil wir überdurchschnittlich gute und motivierte Studenten haben. Wenn wir zusätzlich kontraproduktive administrative Einschränkungen zurückfahren und zur Intensivierung der Arbeit in kleineren Gruppen auch Geld in die Hand nehmen, dann werden wir weiterhin und künftig vermehrt stolz auf unsere Absolventen sein können.


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