In ihrer Aussendarstellung betont die HSG gerne Relevanz und Einzigartigkeit des Kontextstudiums. Doch nicht alle Studierenden scheinen diese Sicht zu teilen. Das Ergebnis einer Evaluation: Die Universität muss besser klarstellen, wozu es das Kontextstudium überhaupt gibt!
Die Ansprüche an das Kontextstudium – Reflexions-, Handlungs- und kulturelle Kompetenz – sind hoch – zumindest von Seiten der HSG: Als «Studium integrale» soll es Persönlichkeiten fördern und fordern, intellektuelle und kulturelle Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen und nebenbei die Studierenden optimal auf die Anforderungen ihres künftigen Berufsweges vorbereiten. Die Wichtigkeit des Kontextstudiums wird betont, wo es nur geht. Sein 10-jähriges Bestehen ist für die Verantwortlichen im nächsten Jahr gar Anlass für eine zweitägige Konferenz an unserer Universität.
Die HSG als weltweites Vorbild
Die Idee scheint gut zu sein: Andere Universitäten folgten dem Vorbild des integrativen Ausbildungskonzeptes, haben teilweise auch ein Kontextstudium etabliert. Zu nennen ist hierbei zunächst die Leuphana Universität Lüneburg unter ihrem wohlbekannten Präsidenten Sascha Spoun: Dort müssen Studierende neben ihrem Fachstudium Kurse aus den Bereichen «Kunst & Ästhetik», «Natur & Technik» oder auch «Sprache & Kultur» belegen. «Komplementärstudium» nennt sich das Ganze und erinnert damit selbst vom Namen her an das St. Galler Original, an dessen Umsetzung Spoun massgeblich beteiligt war. Als weitere Top-Universität im europäischen Raum lässt sich die Copenhagen Business School anführen. Diese orientiert sich an einem ganzheitlichen Ansatz, der die Wirtschaftsausbildung mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Elementen verbinden möchte. Selbst amerikanische Business Schools scheinen inzwischen zu erkennen, dass ihre bisherigen Ausbildungskonzepte zu kurz gegriffen haben. Zu diesem Schluss kommt beispielsweise auch der Carnegie-Report, der eine stärkere Integration der «liberal arts» im Rahmen der Wirtschaftsausbildung fordert. Das Kontextstudium an der Universität St. Gallen wird in diesem Zusammenhang durchaus als Benchmark bezeichnet.
Anspruch und Wirklichkeit – zwei Paar Schuhe?
Doch der schönen Welt der Bildungsvisionen und Hochglanzprospekte steht die graue Alltagserfahrung der Studierenden gegenüber. Zumindest war dies der anfängliche Eindruck der Mitglieder des Evaluationsteams der Studentenschaft, die sich im letzten Semester zum ersten Mal überhaupt auch mit dem Kontextstudium an unserer Universität beschäftigt haben. «Wir haben von vielen Studierenden gehört, dass sie das Kontextstudium überhaupt nicht schätzen», sagt Johannes Riehm, der die Evaluation des Kontextstudiums im letzten Semester verantwortete. «Es wurde häufig als fast schon überflüssiges Beiwerk zum Fachstudium angesehen, dessen Existenzberichtigung in angenehmen Aufwand-Credit-Verhältnissen liegt. Ausserdem gab es innerhalb unseres Teams sehr verschiedene Meinungen darüber, ob bestimmte Aspekte des Kontextstudiums nun positiv oder negativ zu bewerten seien», so Johannes weiter. Als Beispiel nennt er die Frage, ob die Anwendbarkeit des Erlernten auf das Hauptstudium beziehungsweise das Berufsleben essentiell notwendig sei oder nicht.
Aus dieser Unsicherheit heraus entstand die Idee, zum ersten Mal in der Geschichte des Kontextstudiums eine breit angelegte Untersuchung zum Kontextstudium an sich und seiner Bedeutung aus Sicht der Studierenden im Spezifischen durchzuführen. Während sämtliche Kurse bereits seit längerem, wenn auch nicht unbedingt jedes Semester, evaluiert werden, war es nun Ziel des Evaluationsteams, das Kontextstudium als Ganzes zu beurteilen. Zunächst wurden zahlreiche qualitative Interviews durchgeführt, um herauszufinden, in welche Richtung die spätere, empirisch angelegte Studie gehen sollte. Als das geschafft war, wurde die Durchführung einer Online-Umfrage zur Hauptaufgabe des Evaluationsteams. Diese hatte das Ziel, die Meinung der Studierenden quantitativ zu erfassen, Verbesserungspotenziale aufzudecken und festzustellen, welchen Nutzen die Studierenden persönlich aus dem Kontextstudium ziehen.
Wo Licht ist, ist auch Schatten
Die Ergebnisse der Umfrage sind bisweilen überraschend. So gaben beispielsweise 157 von 204 Befragten an, dass für sie das Thema des Kurses bei der Kurswahl wichtig ist. Das Aufwand-Credit-Verhältnis war nur 21 Befragten wichtig. «Aufgrund unserer vorherigen Gespräche hätten wir eigentlich ein genau umgekehrtes Ergebnis erwartet. Die hohe Bedeutung der Inhalte im Gegensatz zu einfach verdienten Credits ist eine positive Überraschung», sagt Theresa Niederle, die das Evaluationsteam letztes Jahr in ihrer Eigenschaft als Vorstand Interessensvertretung betreut hat. Auch in Bezug auf die Qualität des Kontextstudiums selbst gibt es Positives zu vermelden: 77.0% der Befragten fanden Kursmaterialien und Unterricht hilfreich für die Prüfung, 70.1% würden den Kurs wieder wählen und 76.6% empfanden das inhaltliche Niveau als «gut», also weder zu hoch noch zu tief. Positiv ist auch, dass 88.2% der Befragten den zu lernenden Stoff gut bewältigen konnten und der Kursbeschrieb bei 80.4% mit dem tatsächlichen Kursinhalt übereinstimmte.
Dennoch gibt es auch Kritikpunkte, die durch die Umfrage nun noch besser fundiert sind. Diese betreffen zunächst einmal die Qualität des Unterrichts. Bei den 11.8% der Befragten, die den Stoff in ihrem Kurs nicht gut bewältigen konnten, häuften sich die Angaben, dass entweder der Dozent didaktisch mangelhaft unterrichtete oder der Reader nicht sorgfältig zusammengestellt war. Diese Aussage muss man jedoch vor dem Hintergrund betrachten, dass jene 11.8% in absoluten Zahlen nur 24 Studierenden entsprechen. Ein weiteres interessantes Ergebnis der Studie war, dass knapp 16% das Niveau des Kurses zu wenig anspruchsvoll, aber nur 5% die Benotung der Prüfung zu gut fanden. Während das inhaltliche Niveau für nur 7.8% der Studierenden zu anspruchsvoll war, fanden immerhin 12.3% die Benotung der Prüfungsleistung zu streng und 19.1% den Arbeitsaufwand zu hoch. Das bedeutet zunächst mal, dass Unterrichts- und Prüfungsniveau aus Sicht der Studierenden nicht gut aufeinander abgestimmt sind. Ob eine solche Situation fair und erstrebenswert ist, kann auf dieser Datenbasis nun diskutiert werden.
Freiwilligkeit der Teilnahme wirkte möglicherweise ergebnisverzerrend
«Natürlich darf man die Ergebnisse methodisch hinterfragen», so Theresa. «Manche Punkte hätte man präziser formulieren können – da hat das Evaluationsteam für das nächste Mal dazugelernt. Zum anderen gibt es das Problem, dass die Stichprobe vermutlich nicht vollkommen zufällig ausgewählt ist.» Weil die Teilnahme an der Umfrage freiwillig war und bewusst auf Anreize wie die Verlosung von iPods oder Pullovern verzichtet wurde, haben vermutlich viele, denen das Kontextstudium nicht so wichtig ist, gar nicht erst teilgenommen. In diesem Sinne muss von einer gewissen Verzerrung der Ergebnisse ausgegangen werden, da es wahrscheinlich ist, dass die Umfrageteilnehmer im Vergleich zur übrigen Studierendenschaft eine eher extreme Meinung zum Kontextstudium vertreten. Diese methodischen Einschränkungen täuschen jedoch nicht darüber hinweg, dass die Mitglieder des Evaluationsteams einige Aspekte ausmachen konnten, die sie als dringend wahrzunehmende Verbesserungspotenziale beschreiben.
Lösungen müssen nicht teuer sein
Einiger dieser Potenziale könnten dabei mit wenig Aufwand bereits sehr gut genutzt werden: «Es hat sich gezeigt, dass viele der Probleme gelöst werden könnten, wenn die Universität klarer kommunizieren würde, was das Kontextstudium überhaupt soll – und was nicht», so Theresa. Johannes ergänzt: «Wir vermuten, dass ein grosser Teil der negativen Antworten darauf zurückzuführen ist, dass die Betreffenden etwas anderes von ihren Kursen erwartet haben.» Wenn der Nutzen des Kontextstudiums für die HSG beispielsweise nicht primär in der direkten «Verwertbarkeit» der Inhalte liegt, wäre erklärt, warum manche Leute unzufrieden sind, die eben einen derartig konkreten Nutzen in ihrem Philosophiekurs oder der kulturwissenschaftlichen Veranstaltung vermissen. «Da muss die Uni deutlicher Position beziehen. Ich würde sogar sagen, dass sie sich erst einmal intern klar werden muss, welche Rolle das Kontextstudium bei uns tatsächlich einnehmen soll», so Theresa, die nach nun zwei Jahren in SHSG-Ämtern schon mit einigen Dozenten und Verantwortlichen gesprochen hat. «Natürlich geht es dabei auch um Geld. Wenn die Qualität in den einzelnen Kursen steigen soll, muss die Universität mehr Mittel bereitstellen. Nimmt man kontinuierliche Evaluationen ernst, bieten diese die Möglichkeit, schlechte Kurse aus dem Angebot zu streichen.» Andere Probleme kann man aber auch ganz ohne Geld lösen. Zum Beispiel das gemeinsame Verständnis vom Kontextstudium an der HSG verstärken: Dazu gehört nicht nur eine Konkretisierung des Leitbilds in der Aussendarstellung, auf der Homepage oder bei den Vorstellungsveranstaltungen für Neueinsteiger, sondern auch ein intensives Auseinandersetzen der Mitglieder der Universität mit dem Thema Kontextstudium.
Auch müssten sämtliche Dozierende unserer Universität die Idee des ganzheitlichen Ausbildungskonzeptes soweit verinnerlichen, dass sie auch bereit sind, sich für diesen Ansatz zu engagieren, etwa mittels Co-Teaching oder anderer didaktischen Neuerungen. Dennoch: Eine klare Kommunikation des Anspruchs des Kontextstudiums bleibt der essentiellste Aspekt bei der Nutzung der vorhandenen Potenziale. Dass sich etwas tun muss, damit die Universität weiterhin auch Vorbild für andere Hochschulen ist, liegt auf der Hand.
Stellungnahme der Leitung Kontextstudium (LKX) (von Vincent Kaufmann)
Wir freuen uns sehr, dass sich viele Studierende die Zeit genommen haben, sich an einer Evaluation des Kontextstudiums zu beteiligen. Es würde uns ebenso freuen, diesen Dialog weiterzuführen, zumal für die nächsten Jahre mehrere Verbesserungen vorgesehen sind. Nachdem wir uns bislang auf den Ausbau des Angebots konzentrieren mussten (von 170 Kursen in 2005 auf 350 in 2012), hat ein engerer Bezug zwischen Kontext- und Kernfächern zentrale Priorität. In diesem Sinne haben wir 2011 das Planungsgremium um Vertreter aller Schools erweitert, sodass das Kurs-Programm noch besser abgestimmt werden kann. Ab 2013 werden auf Bachelorstufe grosse, interdisziplinäre Lehrveranstaltungen angeboten ; auch von dem universitätsweit für 2015 geplanten Übergang von Surface Learning zu Deep Learning (konzentrierterer Unterricht in Lernblöcken) erhoffen wir uns eine bessere Integration. Ganz überzeugt werden wohl nie alle Studierenden sein. Jedoch sollte bei der Vielfalt des Gesamtangebots jeder, der etwas Neugierde mitbringt, Kurse finden können, die ihn bezüglich Reflexion und sozialer Kompetenz weiterbringen. Wenn das gelingt, ist das Kontextstudium für alle HSG-AbsolventInnen das Asset, das es sein soll.