Im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichem Boom und Gegenwartskunst in China. – Gibt es einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlich aufstrebenden chinesischen Gesellschaft und ihrer Kunstszene? Was oftmals als zwei Seiten einer Medaille bezeichnet wird, steht hier auf dem Prüfstand.
Die chinesische Wirtschaft boomt – und mit ihr die zeitgenössische Kunstszene! Bislang teilten sich fast ausschliesslich Kenner und Sammler aus dem westlichen Ausland diesen «Markt» untereinander auf. Seit einiger Zeit entdecken auch wohlhabende Chinesen Werke der Gegenwartskunst aus ihrem eigenen Land; und dies vor allem als profitable Kapitalanlage.
Kritiker befürchten, dass dieser Run auf die neue visuelle Kunst aus China zu Lasten der Qualität geht, sowohl den künstlerischen Output als auch dessen Vermarktung betreffend. Denn wenn sich der Markt vergrössert und die Preise steigen, ist die Gefahr gross, dass die Künstler ihren Blick hauptsächlich auf den zu erwartenden Wert ihrer Arbeiten richten werden. Vor diesem Hintergrund scheint die Frage berechtigt, inwieweit sich die Gegenwartskunst von der Klasse zur Masse entwickelt. Ein Blick zurück in die Geschichte der chinesischen Kunstszene soll dabei helfen, deren Verständnis von einem «Kunstmarkt» zu verstehen – das Wechselspiel zwischen aktuellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Themen und der freien Kunst.
TERRACOTTA UND COCA-COLA
Auf der ockerfarbenen Urne aus der Han-Dynastie, Zeuge und Zeugnis jahrhundertealter chinesischer Kunsttradition, prangt knallrot und breit das Zeichen der globalisierten Wirtschaft schlechthin: das Logo von Coca-Cola. Das Gefäss mit dem Firmenschriftzug ist ein Werk des chinesischen Künstlers Ai Weiwei aus dem Jahr 1994; es besticht gerade durch seine Einfachheit: eine schlichte Metapher für die verwirrende Mischung von Kapitalismus und Kultur, für Tradition und Moderne im neuen Wirtschaftswunderland China.
Der wirtschaftliche Boom und die damit verbundenen rasanten Veränderungen haben auch die zeitgenössische Kunstszene im Reich der Mitte erfasst und mit sich gerissen. Chinesische Gegenwartskunst ist im Westen präsent wie nie zuvor. Ihre Werke erzielen auf Auktionen Höchstpreise, und allein in Shanghai haben im letzten Jahr 70 neue Galerien eröffnet. Seit einiger Zeit melden sich kritische Stimmen zu Wort, die einen Qualitätsverlust in der Kunst befürchten: Durch die neue Popularität des Labels «Made in China» entstehe ein Produktionszwang auf Kunstschaffende, der sich u. a. darin äussert, dass manche Künstler bereits ihre Werke für die nächsten beiden Jahre im Voraus verkauft haben. Auch gäbe es, initiiert durch den wirtschaftlichen Boom, einen Trend zur «Schönheit» in der Kunst, d. h. eine Verharmlosung bis hin zum Verlust einer eigenen Aussage künstlerischer Werke zugunsten besserer Vermarktung.
Der Vorteil dieses Booms, so andere, liege jedoch gerade in der Freisetzung eines immensen Potenzials durch die Etablierung solider Marktstrukturen für chinesische Gegenwartskunst, von dem letztendlich Künstler und Sammler bzw. Investoren gleichermassen profitieren können. Bisher sind diese Voraussetzungen in China noch nicht gegeben, denn wie das Land selbst ist die Szene geprägt von Aufbruch und Wandel. Die weitere Entwicklung des chinesischen Kunstmarktes, so der Schweizer Lorenz Helbling, Begründer der Galerie ShangArt in Shanghai, sei derzeit nicht vorhersehbar.
DIE NEUE AVANTGARDE
Der besondere Reiz der zeitgenössischen chinesischen Kunstszene liegt in ihrer Jugend und Dynamik. In den visuellen Künsten spiegeln sich mannigfaltig die gewaltigen Umbrüche wider, die das Land in den vergangenen 20 Jahren durchlebt hat. Die chinesische Kunst der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit erzählt und reflektiert diese Geschichte, die gleichzeitig ihre eigene ist. Seit der teilweisen Öffnung des Landes durch Deng Xiaoping Ende der 70er-Jahre erlebten die visuellen Künste, deren Werke oft eine politische Intention haben, eine Explosion gewaltigen Ausmasses. Seit ihrer Einführung werden westliche Techniken in der Kunst, neben traditionellen, jahrhundertealten Methoden, z.B. Kalligrafie, von jungen Kunstschaffenden in Shanghai und Beijing auf breiter Ebene erprobt.
Von Anfang an thematisierten chinesische Künstler dabei politische und soziale Zustände in ihrem Land. So ging z. B. aus dem geistigen und kulturellen Trauma der Kulturrevolution die so genannte «Kunst der Verwundeten» hervor. Mitte der 1980er-Jahre behandelte die avantgardistische 1985er-Bewegung verstärkt politische und soziale Verhältnisse unter den Vorzeichen der sich verändernden wirtschaftlichen Situation. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen Platz in Beijing 1989 wurde es still um die avantgardistische Kunstszene. Der Wandel in den kulturellen Mentalitäten, der gerade durch die Wirkung der wirtschaftlichen Öffnung ausgelöst worden war, wurde von der politischen Kaste strikt abgelehnt. Der Fokus des öffentlichen Interesses verschob sich ebenfalls von politischen Ideologien hin zum «Novum» Geld. Die neue Wirtschaftspolitik wirkte unmittelbar in alle Lebensbereiche hinein, aber die Themen der künstlerischen Avantgarde, und damit auch die Künstler, verloren zunehmend ihr Publikum. Die 1990er-Jahre standen im Zeichen der «neuen Macht»: Schnelles Geld, Konkurrenz, Wettbewerb und die Umorientierung auf Leistung statt Mao-Bibel, Treue zu kommunistischen Idealen und eiserner Reisschüssel.
Chinas Bevölkerung entdeckte den Konsum und fand sich in einer Gesellschaft wieder, in der eine immer grösser werdende Lücke zwischen Arm und Reich klaffte. Darin, und in dem unausgefochtenen Gegensatz zwischen kommunistischer Ideologie und dem neuen Kapitalismus chinesischer Prägung, fanden Künstler neue Anknüpfungs- und Reibungspunkte. Dies zeigte sich in vielen Werken, die charakterisiert waren von politischer Pop-Art und zynischem Realismus. Diese Künstlergeneration der zwischen 1960 und 1975 Geborenen prägt jetzt die chinesische Avantgarde und nimmt teil am internationalen Kunstdiskurs; sie waren es, die ihre unmittelbare Erfahrung des politischen und wirtschaftlichen Wandels in ihren Werken reflektierten und kommentierten. Interessanterweise erlebte auch die traditionelle chinesische Kunst eine neue Blüte, ausgelöst vielleicht von einer beständigen Veränderungen unterworfenen Welt, die zu einer Rückbesinnung auf – um nicht zu sagen, Sehnsucht nach – althergebrachte Tradition und Beständigkeit führte. Oder auch zu einer Erinnerung an «alte Werte» im wahrsten Sinne des Wortes, an die sich im Zuge eines kapitalistischen Flächenbrandes innerhalb eines immer noch kommunistisch strukturierten Systems neu erinnert wurde.
ENTPOLITISIERUNG DER KUNST
Diesen Vorwurf, sich vornehmlich am wirtschaftlichen Wert künstlerischer Arbeit zu orientieren, muss sich auch die jüngste Generation der Avantgarde von kritischen Beobachtern machen lassen. Ihre Arbeiten seien persönlicher und privater Natur und würden sich nicht mehr mit den «grossen Themen», mit Chinas politischen und sozialen Realitäten befassen, wie es noch die 1985er-Bewegung getan hatte. Ausserdem wird eine Anpassung an den allgemeinen Trend, eine Tendenz zum «Gefallen-Wollen», zur Schönheit bemängelt. Letzteres meint wohl, dass die Arbeiten der Künstler nicht mehr um eines künstlerischen Ausdrucks willen gefertigt werden, sondern, um mit dem Mobiliar und der Tapete potenzieller Käufer zu harmonieren.
«Prettieness (…) expresses the ascendendance of the goals of wealth and economic power as well as the formation of white-collar-culture and commercial culture», kommentiert Zhu Qi, Kurator verschiedener Ausstellungen chinesischer Gegenwartskunst, diese Kritik; damit bestätigt er einerseits die beobachteten Trends. Auf der anderen Seite aber räumt er diesen Entwicklungen auch eine gewisse Rechtfertigung ein. Denn die Kunst in China, so der aus der Schweiz stammende Lorenz Helbling, setze sich intensiv mit der Realität Chinas auseinander. Die von Zhu Qi beschriebenen Realitäten werden in der künstlerischen Produktion gespiegelt, allerdings in einer anderen Art und Weise, als es noch die 1985er-Generation getan hatte. Auch wenn eine grössere Distanz der Künstler zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen wünschenswert wäre, können doch nicht 20 Jahre alte Massstäbe auf die jüngere Generation angewendet werden. Diese haben ein Recht auf eigene Wege, andere Ausdrucksformen und auch darauf, sich selbst zu vermarkten. Sowenig dies auch kritischen, zumeist westlichen Beobachtern der Szene gefallen mag, die sich für die frühen, subversiven Werke aus der Phase des Übergangs vom sozialistischen Realismus zur zeitgenössischen Kunst in den 1970er- und 1980er-Jahren begeisterten.
Dies sind auch die Werke, die zunächst das Interesse von Uli Sigg auf sich zogen. Sigg, einer der ersten Sammler chinesischer Gegenwartskunst, war Schweizer Botschafter in Beijing von 1995 bis 1998. Der Kunstliebhaber begann, privat Werke chinesischer Künstler zu erwerben, die seinem persönlichen Geschmack entsprachen – bis er feststellte, dass niemand ausser ihm selbst systematisch sammelte. Daraufhin änderte er seine Vorgehensweise und versuchte, losgelöst von seinen eigenen Vorlieben, durch seine Sammlung einen Querschnitt der zeitgenössischen chinesischen Gegenwartskunst zu repräsentieren. Durch die Arbeit an dieser Zusammenstellung traf Sigg im Laufe der Zeit mehr als 1000 Kunstschaffende und trug 1200 Werke von 180 Künstlern zusammen. Darunter befinden sich neben vielen Ölgemälden und Fotografien auch Plastiken und Video- und Installationskunst.
KUNST AUS STATT FÜR CHINA
Wie Uli Sigg kommen die meisten Sammler chinesischer Avantgardekunst aus Europa. Ihr Anteil beträgt fast 99 %, laut des international arbeitenden Künstlers und Kunsttheoretikers Zhang Lan Sheng. Er beurteilt das westliche Interesse an der chinesischen Gegenwartskunst als Synergieeffekt für den zeitgenössischen Kunstdiskurs insgesamt: «Es ist für mich ein Hinweis darauf, dass Europa bzw. im weiteren Sinn der Westen nach einer neuen Synergie für die Belebung des zeitgenössischen Kunstdiskurses sucht. Zu diesem Zweck sieht man sich bei ‹anderen› um, bei nichteuropäischen, ferneren Künstlern und Werken.» Bei der Biennale 1999 in Venedig, bei der chinesische Gegenwartskunst auf europäischem Boden erstmalig breit repräsentiert wurde, gab es kritische Stimmen darüber, dass die derzeitige Entwicklung der chinesischen Kunstszene lediglich eine Wiederholung europäischer Verhältnisse sei. Die beeindruckenden und faszinierenden chinesischen Verhältnisse, so Sheng, wirkten weit über das Land selbst hinaus und belebten den internationalen Kunstdiskurs.
Eines der vielen Paradoxe, die kennzeichnend für China sind, besteht gerade in der Tatsache, dass ihre Künstler bereits internationale Erfolge feierten, bevor sie in ihrem eigenen Land überhaupt wahrgenommen wurden. Von der chinesischen Regierung und ihren Institutionen der Kulturförderung werden sie oftmals ignoriert. So war bspw. die Internetseite des Amerikaners Robert Berwell, ein Forum und virtueller Präsentationsraum für chinesische Gegenwartskunst, in der ganzen Welt abrufbar – allerdings nicht in China selbst.
Die Zeit der Ignoranz ist zwar jetzt, drei Jahre später, vorbei – dank der ungeheuren Eigendynamik der Szene, angeschoben vom chinesischen Wirtschaftsboom und der internationalen Aufmerksamkeit, die Kunst aus China geniesst. Dennoch stehen Künstler und Händler in China vor vielen Problemen. Die Ignoranz der chinesischen Regierung für ihre eigenen Künstler hat dazu geführt, dass der Kunstmarkt sich erst in den 1990er-Jahren entwickeln konnte, initiiert von Händlern, kommerziellen Galeristen und grossen Auktionshäusern aus dem westlichen Ausland. Diese dominieren und managen die geschäftliche Seite des Kunstbetriebes in den beiden künstlerischen und wirtschaftlichen Zentren Beijing und Shanghai.
Eine Verlagerung dieses Marktes von der internationalen auf die lokale Ebene ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Es fehlt an notwendigem Know-how in Sachen Kunstmanagement sowie an fundiertem Wissen um die Geschichte und Entwicklung der Gegenwartskunst des eigenen Landes. Der Erwerb von Werken durch inländische Sammler – zumeist wohlhabende Geschäftsleute – ist derzeit gesteuert vom Interesse an kurzfristigen Gewinnen. Aus chinesischer Perspektive wird die Kunst des eigenen Landes als Teil des Finanzmarktes gesehen, in den es sich, zusätzlich zum Aktien- und Immobilienmarkt, zu investieren lohnt.
PROFESSIONALISIERUNG DER KUNST IST WÜNSCHENSWERT
Für eine nachhaltige Etablierung eines chinesischen Kunstmarktes reicht diese Art von Engagement nicht aus. Dabei geht es nicht um die Gefahr eines Ausverkaufs von Kunst und Künstlern, sondern darum, dass deren Qualität unter dem Erfolgs- und Produktionsdruck nachzulassen droht. Kritiker befürchten langfristig eine Minderung des künstlerischen und dadurch auch des finanziellen Wertes, womit weder den inländischen Investoren noch den Künstlern selbst gedient wäre.
Es ist an der Zeit, die derzeitige Verbindung von Kunst und Kapital zu nutzen, um einen Markt aufzubauen, der Bestand hat. Dazu ist eine stärkere Förderung von staatlicher Seite unabdingbar. Kulturförderung in China beschränkte sich bis vor kurzem fast ausschliesslich auf die Pflege und Präsentation des kulturellen Erbes; kaum eine staatliche Institution sammelte Gegenwartskunst oder stellte diese aus. Mittlerweile scheint die Regierung die Zeichen der Zeit erkannt zu haben: In Zusammenarbeit mit Lorenz Helbling von ShangArt organisierte das National Art Museum of China im letzten Jahr erstmalig eine Ausstellung zur New Media Art in Beijing.
An Kunstakademien und Universitäten sind Studiengänge geplant, die sich die Anhebung des lokalen Niveaus hinsichtlich der Beurteilung von Kunst jenseits ihres reinen Marktwertes zum Ziel gesetzt haben. Wünschenswert ist darüber hinaus auch die Entwicklung eines Bewusstseins für den ideellen Wert von Werken chinesischer Gegenwartskunst seitens lokaler Investoren. Denn gerade diese Gruppe bildet die Klientel für eine langfristige, nachhaltige und qualitativ hochwertige Etablierung einer marktwirtschaftlichen Infrastruktur für Kunst in China selbst. Und damit für eine Verlagerung des Kunstmarktes von der internationalen auf die lokale Ebene.
«Eine neue Kunst für eine neue Gesellschaft», wie es im Interesse von Lorenz Helbling liegt, kann nur durch ideell inspirierte Investitionen erhalten werden, nicht durch kurzfristige, an maximalem Gewinn orientierte Käufer. Andernfalls droht tatsächlich eine Überhitzung des Marktes. Eine Kunstproduktion, die auf Masse statt auf Klasse setzt und deren Werke zu gefallen suchen, ist nicht mehr in der Lage, das ungeheure künstlerische Potenzial Chinas zu erschliessen.
Der Verlust dieses gerade entdeckten «Wertes» im doppelten Wortsinn wäre immens, insbesondere unter dem Aspekt einer westöstlichen Annäherung, denn die chinesische Gegenwartskunst hat sich im Laufe ihrer jungen Geschichte immer intensiv mit den Realitäten in China auseinandergesetzt. In ihren Werken manifestieren sich diese Realitäten, und sie können gerade für den Westen Wegweiser und Codes bedeuten, über die sich das Phänomen China in einer einzigartigen Art und Weise entschlüsseln liesse.
Elke Schomacher
Elke Schomacher studiert Politikwissenschaft, Geografie und Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Der Erstdruck dieses Essays erschien im Journal 360°. Die Ausgabe 01/2006 thematisierte die Rolle Chinas im 21. Jahrhundert.